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»Morgen hast du Bar Mitzwah, Sami!«
Wie es kam, dass Sami Modiano in Auschwitz in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurde
Auf 1800 beziffert Themos Kornaros in seiner Reportage über das KZ Chaidari die Zahl der aus Rhodos deportierten Juden. Es überlebten 151 – einer von ihnen: Sami Modiano. Erst mit 83 Jahren konnte er endlich sagen: »Ich habe die Kraft gefunden, meine Lebensgeschichte zu erzählen.« Lange Zeit wollte er nur vergessen. Vergessen, was doch niemals zu vergessen ist. Und wenn er andeutungsweise wirklich einmal auf Erlittenes zu sprechen kam, dann begegneten ihm Fassungslosigkeit, Unglauben.
Am 23. Juli 1944 ist er als 14-Jähriger mit anderen jüdischen Bürgern aus seiner Geburtsstadt Rhodos über das Athener SS-Schreckenslager Chaidari und Thessaloniki nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Schlagartig endete seine Kindheit, in seiner Erinnerung eine einzigartige Traumzeit trotz des frühen Todes der Mutter. Ebenso schlagartig endete auf Rhodos jüdisches Leben, das sich über Jahrhunderte friedlich entfaltet hatte, nachdem 1452 vom Osmanischen Reich den ersten Familien der während der Reconquista aus Spanien vertriebenen Juden die Insel geöffnet worden war. Nach 1912 wurden die Dodekanes, eine Inselgruppe in der östlichen Ägäis, italienisches Hoheitsgebiet. »Ich war stolz, in die italienische Schule zu gehen und Italienisch zu sprechen. Ich fühlte mich als Italiener«, erinnert sich Sami Modiano. Ihm gegenüber hatten allerdings die wenigen jüdischen Mitbürger mit noch türkischem Pass ein wesentlich besseres Los, da sie von der Türkei aufgenommen, vor den späteren Deportationen in die Vernichtungslager bewahrt wurden.
Ein Schock, die Ankunft in Auschwitz: »Die Selektion. Die machte ein Arzt … Ich weigere mich, seinen Namen zu nennen. Er schickte Tausende unschuldige Menschen in den Tod. An nur einem einzigen Tag. Sie alle hat er auf dem Gewissen. Wie konnte er abends schlafen gehen? Und wie hat er nach dem Krieg schlafen können? Die ganzen langen Jahre, die er noch gelebt hat«, schreibt Sami Modiano. Haben die Täter sich jemals solche Fragen gestellt? Sich zu ihrer Schuld bekannt, gar Reue gezeigt?
Sami Modiano gedenkt der Opfer. Sie sind es, die er nicht namenlos lassen will: Vater Jakob, 45 Jahre, als er ermordet wurde, Schwester Lucia, sie wurde nur 17 … und die vielen anderen Angehörigen seiner großen Familie, ehemalige Freunde und Bekannte.
Ihm haben die Nazis die Nummer B 7456 eingebrannt. »Wieso ich überlebt habe, frage ich mich noch heute.« Von SS-Leuten und Schäferhunden bewacht, musste er mit anderen Jugendlichen und Männern den schweren Karren zerren, der täglich die Krematorien mit Holz aus den umliegenden Wäldern versorgte. Und dies bei jedem Wetter, auch bei Regen, Schnee und Kälte. Unaussprechliches Leiden. Vergleichbares schildert Jakovos Kambanellis, ein griechischer Dramatiker und Schriftsteller, über das Sterben auf der »Todesstiege« des Steinbruchs von Mauthausen, die – da sie »den heute geltenden modernen Sicherheitsanforderungen nicht entspricht«, wie die Gedenkstättenverwaltung unlängst wissen ließ – bis auf Weiteres nicht begehbar bleibt. Die Torturen, mit denen die Häftlinge in den deutsch-faschistischen Lagern durch Arbeit »frei«, das heißt, getötet werden sollten, waren unermesslich.
Sami Modiano blickte dem Tod unzählige Male ins Auge. Umso bewegender seine Schilderung, wie er in dieser faschistischen Hölle in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurde. Eines Tages haben Mithäftlinge ihn in strengem Ton wissen lassen: »Domani, tu Bar-Mitzwah qui!« (Morgen Du hier: Bar-Mitzwah!). In der hinteren Ecke seiner Baracke kamen 15 Männer zusammen, beteten und umarmten ihn. »Alle waren gerührt und befriedigt, weil wir es geschafft hatten und sie etwas Gutes, also ihre Pflicht, getan und mich zum mündigen Juden gemacht hatten. Wir alle konnten jetzt in Frieden sterben. Von diesem Augenblick an, dank dieser fünfzehn einfachen, aber außergewöhnlichen Menschen, konnte ich von jetzt an bei allen religiösen Dingen als mündiger Jude teilnehmen.«
Dass er am 17. Januar 1945 den nächtlichen, zwar kaum drei Kilometer langen Marsch von Birkenau nach Auschwitz, doch durch mindestens 30 Zentimeter Schnee stapfend und in dünner Häftlingskleidung geschafft hat, grenzt für ihn noch heute an ein Wunder. Hunderte Leidensgefährten sind auf der kurzen Wegstrecke von der SS erschossen worden oder aus Erschöpfung zusammengebrochen. Die letzten zehn Tage bis zur Befreiung durch die Rote Armee waren noch einmal höllisch. Danach, im Lazarett wurde »ich von einer außergewöhnlichen russischen Ärztin behandelt«, erinnert sich Sami Modiano: »Sie tat mit großer Mühe alles, um mich wiederherzustellen.«
Welch unbändiger Lebenswille gehörte dazu, um wieder zu Kräften und zu sich selber zu kommen! Und welche Willenskraft war aufzubringen, sich – gewissermaßen gerade erst wieder neu geboren – direkt hinter die Front zu begeben, auf deutsches Territorium, um Schützengräben auszuheben, damit die Rote Armee die Wehrmacht erfolgreich zurückdrängen konnte.
Zu Kriegsende in Opole gestrandet, wollte er endlich heimzukehren. Sein gemeinsam mit einem Gefährten unternommener abenteuerlicher »Gang« von Polen bis nach Rom lässt sich dann schon gleichsam als Ausblick auf den weiteren Lebensweg verstehen – eine Odyssee durch mehrere Länder, Kontinente überschreitend. Nach langem Zögern besucht er nach Jahrzehnten die Gedenkstätte Auschwitz, um die Toten zu ehren. »Es ist, als würden sie mir sagen: Sami, du hast das Inferno überlebt, um unsere Geschichte zu erzählen!«
Sami Modiano geht in die Öffentlichkeit, spricht immer wieder über das Erlittene in Schulen und im Fernsehen. Manchmal versagt ihm die Stimme, er wird von unsäglicher Trauer übermannt. Was bedeutet für diesen Mann da schon die Ehrung mit dem Bundesverdienstkreuz? Zumal sie nicht einmal dazu führte, dass seine Erinnerungen schon längst auch auf Deutsch hätten gelesen werden können. Wie viel Bitterkeit mag er empfinden, dass die Bundesrepublik Deutschland dem im Zweiten Weltkrieg ausgeplünderten Griechenland nach wie vor die wiederholt angemahnte Wiedergutmachung verweigert? Der Bremer Rechtshistoriker Christoph U. Schminck-Gustavus, seit langem mit der Dokumentation von Wehrmachtsverbrechen befasst, hat Sami Modiano eher zufällig bei einem Aufenthalt auf Rhodos in der altehrwürdigen, 1575 erbauten Kahal Kadosh Shalom Synagoge getroffen und von seinem Erinnerungsbuch erfahren. Seiner Übersetzung für den Berliner Metropol-Verlag in dessen mit bemerkenswerter Beharrlichkeit realisierten Reihe zur Geschichte der Konzentrationslager 1933 bis 1945 ist eine ebenso große Resonanz zu wünschen wie der Originalausgabe, die seit 2013 vierzehn Auflagen erlebt hat.
Sami Modiano: Von Rhodos nach Auschwitz. Metropol-Verlag, 168 S., geb., 19 €.
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