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Lina E.: »Infame Gleichstellung von links und rechts«
Verteidigung spricht in Verfahren gegen Lina E. von »politischer Justiz« und hält Anklage als kriminelle Vereinigung für verfehlt
Kürzlich hat die Mobile Beratung in Thüringen, die Opfern rechter Gewalt zur Seite steht, ihre Bilanz für 2022 vorgelegt. In dem Bundesland gab es demnach 180 Übergriffe durch Nazis, von denen 374 Menschen betroffen waren, ein Zuwachs um 45 Prozent. Wer als Ausländer identifiziert wird, als Obdachloser oder politisch Andersdenkender, kann sich an manchen Orten und zu bestimmten Zeiten kaum auf die Straße trauen. Der Staat setzt dem wenig entgegen. Er habe, sagte Ulrich von Klinggräff, »komplett dabei versagt, national befreite Zonen zu verhindern«.
Von Klinggräff ist Verteidiger in einem Verfahren, in dem der Staat große Härte zeigt – gegen Menschen, die sich Nazis entgegengestellt haben. In dem Prozess vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden, in dem seit September 2021 an mehr als 90 Tagen verhandelt wurde, wirft die Bundesanwaltschaft von Klinggräffs Mandantin Lina E. und drei Mitangeklagten vor, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben, um brutale Überfälle auf tatsächliche und vermeintliche Nazis zu begehen. Konkret geht es um sechs Taten, darunter zwei Überfälle auf eine Nazikneipe in Eisenach.
Angetrieben habe die Täter eine »militante antifaschistische Ideologie«, hatte Bundesanwältin Franziska Geilhorn in ihrem Plädoyer formuliert. In diesem hatte sie gefordert, die von ihr als Rädelsführerin angesehene Lina E. zu acht Jahren Haft zu verurteilen. Für die Mitangeklagten verlangte sie Haftstrafen zwischen 33 und 45 Monaten.
Die Verteidigung hält das für völlig überzogen. Von Klinggräff, der an diesem Mittwoch als erster der acht Anwälte plädierte, sprach von »maßlosen Strafanträgen«. Er erinnerte daran, dass der Thüringer Neonazi Ralf Wohlleben im NSU-Prozess wegen der Beihilfe zu neun Morden zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Bei den Taten, die der vermeintlichen Gruppe um Lina E. vorgeworfen werden, gab es mehrere teils schwer Verletzte, aber keine Toten. Linke Gewalt bestrafe die Bundesanwaltschaft offenkundig mit einem »Politmalus«, sagte von Klinggräff. Er regte das Gegenteil an: »Man könnte es ja auch als strafmildernd erkennen, wenn der faschistischen Gefahr begegnet wird.«
Daran habe die Bundesanwaltschaft kein Interesse. Sie habe das Verfahren als »politischen Prozess« inszeniert; die äußeren Umstände, etwa die hohen Sicherheitsvorkehrungen, sollten es wie einen Terrorprozess wirken lassen. Von Klinggräff sprach auch davon, dass »Feindstrafrecht« angewendet werde. Er verwies auf Begründungen der Anklage, wonach die angeblichen Taten der Gruppe Lina E. eine »Gewaltspirale« zwischen linken und rechten Gruppierungen befördert und den »friedlichen politischen Meinungskampf« in Deutschland unterminiert hätten, womit an einem Pfeiler der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerüttelt werde.
In solchen Äußerungen sieht von Klinggräff eine »infame Gleichstellung von links und rechts«. Die Bundesanwaltschaft sei »erkennbar eine Freundin der Hufeisentheorie«. Die von ihr geäußerten Behauptungen seien als »raunender Verweis auf Weimar« gemeint und auf die in bürgerlichen-konservativen Kreisen der Bundesrepublik gern kolportierte Theorie, wonach nicht zuletzt linke Gewalt der NSDAP und Hitler den Weg an die Macht geebnet habe. Derlei Denkmuster führten zu einer »Weigerung, das Problem des Rechtsextremismus in seiner ganzen Tragweite zu verstehen«. In der Nazihochburg Eisenach, fügte er lakonisch an, sei ein »friedlicher politischer Meinungskampf« eine Illusion gewesen. Der dort überfallene Nazi und Kneipenbetreiber Leon R. war in der »Atomwaffendivision Deutschland« aktiv und wurde kurz nach seiner Zeugenaussage im Dresdner Verfahren seinerseits wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verhaftet.
Mit Blick auf konkrete Tatvorwürfe forderte von Klinggräff für die Hauptangeklagte Lina E. jeweils Freispruch. Ihre konkrete Beteiligung sei weder für den brutalen Überfall auf einen Bauarbeiter im Februar 2020 nachzuweisen, der die gravierendste angeklagte Tat ist, noch etwa für die Ausspähung der Teilnehmer eines Nazi-Aufmarschs in Dresden im Februar 2020, die am Bahnhof Wurzen zusammengeschlagen wurden. Der Verteidiger beklagte, zentrale Teile der Anklage beruhen auf Mutmaßungen und Zirkelschlüssen. Hypothesen hätten oft Beweise ersetzt. Die Rede war von »Voreingenommenheit« und »unbedingtem Verfolgungseifer«. Scharfe Kritik übte er auch am Gericht. Dieses sei nicht bereit gewesen zu einer »kritischen Durchleuchtung« der Vorwürfe der Bundesanwaltschaft. Vielmehr habe es einen »Schulterschluss« zwischen der Kammer und der Anklagebehörde gegeben.
Zum schwerwiegendsten Anklagepunkt – dem der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 Strafgesetzbuch – äußerte sich von Klinggräffs Kollege Erkan Zünbül. Er erinnerte daran, dass der Paragraf im Jahr 2017 vom Bundestag novelliert wurde, um besser gegen organisierte Kriminalität, also etwa Menschen-, Drogen- oder Waffenhandel, vorgehen zu können. Von der Bundesanwaltschaft werde er aber als »Staatsschutzparagraf« missbraucht. »Das war so vom Gesetzgeber nicht intendiert«, sagte Zünbül. Das Dresdner Verfahren sei ein »Experiment«, wie weit man in diesem Bestreben gehen könne.
Die Verteidigung sieht dabei keine Belege für eine »bleibende Struktur«: feste Hierarchien, eine klare Rollenverteilung oder eine kontinuierliche Mitgliedschaft. Schon zum Prozessauftakt im Herbst 2021 sprach einer der Anwälte von einer »Vereinigung, die keiner kennt«. Das Bild, das die Anklage gezeichnet habe, »fällt schnell in sich zusammen«, sagte Zünbül jetzt.
Die Plädoyers der Verteidigung dauerten am Mittwoch bei Redaktionsschluss an und sollen am Donnerstag fortgesetzt werden. Mit einem Urteil wird für den 10. oder 17. Mai gerechnet.
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