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DDR-Filmfabrik Orwo: Filmmaterial gegen Rinderknochen
Von der DDR-Filmfabrik Orwo ist heute nicht mehr viel übrig. Der Künstler Tobias Zielony hat sich der Vergangenheit des Betriebs fotografisch angenähert
Das Buch flimmert beim Blättern. Auf den rechten Seiten zeigen sich zunächst scheinbar leere, monochrome Flächen, Kontrollfelder für das Skalieren der Grautöne, dann Quellcodes und Anleitungen, die beim Auslesen der unzähligen noch folgenden QR-Codes helfen sollen. Während man das alles überblättert, hilft es bei gar nichts, es flimmert nur. Dabei handelt es sich um Frames eines Archivfilms, der von den Geschehnissen einer riesigen Filmfabrik der DDR berichten soll. Über Jahrzehnte belieferte sie die ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas, aber auch Länder wie Indien. Der Künstler Tobias Zielony hat in Wolfen, wo die Orwo (Original Wolfen) ansässig war, Material über sie gesammelt – Aufnahmen ihrer Gebäude, Werkstätten und der Produkte, Bilder der heutigen Ortschaft, Erinnerungen der ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeiter des Kombinats.
Es ist ein Versuch, das Wissen über eine abgewickelte Industrie, ihren technischen Fortschritt und ihre Verbrechen zu bewahren. Die Orwo-Werke mit ihren einst 20 000 Beschäftigten gibt es seit den späten 90er Jahren nicht mehr. In ganz Bitterfeld-Wolfen leben heute gut 15 000 Menschen. Übriggeblieben von der kleinstadtgroßen Fabrik ist Filmotec, ein Unternehmen, in dem noch 20 Personen mit der Herstellung von Archivfilmen beschäftigt sind. Angeblich bewahren diese Filme die auf ihnen gespeicherten Informationen für eine halbe Ewigkeit, die Rede ist von mehr als 500 Jahren Haltbarkeit.
Es ist ein ebensolcher Archivfilm, auf dem Zielony seine Daten zur Orwo für eine Nachwelt speichert, von der man heute überhaupt nicht sagen kann, wie sie beschaffen sein könnte – was ihre technischen Mittel sein könnten oder was überhaupt ihr Interesse ist. Möglicherweise wird es eine solche Nachwelt nicht geben. Mögen die Datensätze über diese Gegenwart und ihre Vergangenheit noch so präzise sein und noch so sicher – vielleicht sind sie in Zukunft ganz egal. So egal wie nur irgendein Flimmern.
Zwischen den Erinnerungen der ehemaligen Beschäftigten der Orwo-Werke auf den linken Seiten des Buches ein Blick aus der Zukunft: die Aliens, die Replikanten, die Überlebenden der kommenden Krisen. »Die wahrscheinlichste Variante ist doch, dass sie Rohstoffe suchen werden. Und nicht die Wahrheit.« Noch in der Gegenwart jener Kleinstadt in Sachsen-Anhalt scheint kaum jemand da zu sein, der sich für ihre jüngere Vergangenheit interessieren könnte. »Als ich das erste Mal nach Wolfen komme, ist es Nacht, ich gehe auf Trampelpfaden zu einer Tankstelle«, schreibt Zielony.
Zwischen den technischen Sequenzen des Archivfilms findet man im Buch grau verwaschene Aufnahmen von zwei jungen Frauen draußen beim Spiel. Ob das Schnee ist oder Regen, was da vom Himmel vor die Linse schwebt, lässt sich schwer sagen. Auch das schlammgraue Gras und die kahlen Bäume auf Zielonys Bildern wirken unbeteiligt an diesem einsamen Ort, der hier so aussieht, als sei Wolfen schon heute die Welt von Aliens, Replikanten und Überlebenden der kommenden Krisen. Zwischendurch weht Grausamkeit durch die Seiten.
Eine Texttafel berichtet knapp von chemischen Dämpfen in der Luft der Fabrik, eine andere von Häftlingen, die zur Arbeit in den Werken gezwungen wurden. Dann folgt die Geschichte der Strafe, die Geschichte von einem finsteren Raum, in den man sie für Stunden stehend sperrte. Finsternis als Bedingung des Lichts taucht immer wieder auf. »Das Auge gewöhnt sich an das Dunkel. Dann sieht man mehr.« Für die Filmproduktion scheinen die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der Nazis unabdingbar gewesen zu sein: »Die waren zum Beispiel im Faserwerk. Wo es besonders gestunken hat. Im Faserbereich hätte man die Produktion sonst gar nicht mehr aufrechterhalten können.«
Es sind Geschichten aus einer Vergangenheit, die ihren Alltag hatte und auf die unsere Gegenwart mit ihrem Alltag folgte. Die grausamen Ereignisse, die damals in ihrem Alltag gedämpft (oder erstickt) wurden, verweisen auf die grausamen Ereignisse, die heute in ihrem Alltag gedämpft (oder erstickt) werden. Auf einmal erscheint Geschichte als ein blinder Prozess, der über Leichen geht, die man später nicht mehr erinnert. Zielonys Farbaufnahmen vom Fabrikgelände der Orwo wirken plötzlich wie die Aufnahmen von einem Tatort: stehende Autos in angeleuchtetem Gras, fahle Laternen und zugemauerte Fenster. Zwischen dem Aufblitzen der Gewalt im Protokoll findet sich harmloser Alltag. Von geschlechtergerechter Bezahlung und kostenloser Kinderbetreuung ist da die Rede und von einem NVA-Offizier beim betrieblichen Ballettensemble.
Eine der Texttafeln berichtet von regen Geschäftsbeziehungen der Orwo nach Indien. Das begehrte Filmmaterial wurde massenweise auf den Subkontinent verschifft. Im Gegenzug kamen von dort ergiebige Rinderknochen, die man in der Sonne getrocknet hatte. Daraus wurde in der DDR Gelatine gewonnen, die zur Beschichtung des Filmmaterials notwendig war. Auch dieser Sachbestand blitzt aus dem gleichmäßigen Flimmern der Informationen hervor, und bleibt ein wenig an der Oberfläche des Datensees.
Möglicherweise aber verändert das Wissen um Ausbeutung, giftige Chemie und Tierkadaver die Einstellung zu einem Material, dem man seine Grundbestandteile nicht ansieht. Der Kölner Fotograf Boris Becker hatte zu Beginn des Jahrtausends unter dem Titel »Fakes« eine Serie von Fotos aufgenommen, die alltägliche Gegenstände wie Festplatten und Action-Spielfiguren zeigen. Was man den Gegenständen nicht ansieht, ist ihre Beschaffenheit: Sie alle wurden von der Polizei an Flughäfen beschlagnahmt; sie bestehen aus gepresstem Kokain. Nun zeigt Tobias Zielony uns die wahre, aber unsichtbare Beschaffenheit des analogen Filmmaterials.
Was macht die Geschichte und der Fluss ihrer Daten mit diesen Informationen? Wie wird man die Fotografien von Ost-Stars wie Sibylle Bergemann, Evelyn Richter oder Helga Paris in Zukunft betrachten, wenn man sie in Museen entdeckt? Auch für die Westproduktion werden ähnliche Bedingungen gegolten haben, ohne tote Tiere, keine analoge Fotografie. Dass der digitale Turn kein moralischer Befreiungsschlag für die Fotografie ist, lernt man in der Wiener Ausstellung »Mining Photography«, die von Esther Ruelfs und Boaz Levin konzipiert wurde und in der Zielonys »Wolfen«-Arbeit zu sehen ist. Denn auch wenn man hier keine Tierkadaver benötigt, werden doch seltene Erden geschürft, wird CO2 ausgestoßen und Elektroschrott in die ärmere Welt verschickt.
Tobias Zielony: Wolfen. Hrsg. von Marta Herford, Spector Books Leipzig, 188 S., geb., 32 €. Die Arbeit ist bis zum 29. Mai im Rahmen der Ausstellung »Mining Photography« im Kunsthaus Wien zu sehen.
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