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Christoph Hein: Endlich dazugehören?

Zwischen den Welten: »Unterm Staub der Zeit«von Christoph Hein

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Er ist der König der Welt: der Staub. Wir wirbeln ihn auf, er lässt es mit sich geschehen. Und setzt sich. Auf alles, was sich aufreckt mit Posen der Unangreifbarkeit. Der Mensch sieht den Staub nicht, wenn er Zukunft zu erspähen sucht. Erst Erinnerung wedelt Wahrheit auf, wir erschrecken, aber werden auch von Erstaunen erfasst. Was so alles geschah an Erzählenswertem: »Unterm Staub der Zeit« – so heißt der neue Roman von Christoph Hein.

Ein Buch über die genetische Grundfrage: Ja oder Nein? Wirst du in Strom und Gegenstrom der Zeit ein Zustimmender, oder wird dein Lebensformat die Distanz? Der Schriftsteller sagte über sich selbst: »Gelegentlich hat man Glück: Noch bevor ich in der Lage war, mir ernsthaft die Frage zu stellen, ob und wie ich mich in die Gesellschaft einbringen sollte, teilte mir der Staat mit, dass er auf meine Mitarbeit keinen Wert lege.« Keine Abiturchance für den Pfarrersohn in der DDR.

Literatur auf der Leipziger Buchmesse
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Was daraus folgte, wurde nun Erzählung, im Ausgangspunkt verlegt ins fiktive Guldenberg, so hieß der vorherige Roman Heins. Eine deutsche kleine Stadt als Spiegel der politischen Zerklüftungen, der sozialen Brüche. Von hier bricht Daniel auf, 1958. Der 14-Jährige kommt ins Internat eines Gymnasiums in Westberlin, hier wird er das Abitur ablegen, hier lernt auch sein Bruder, hier gilt »der Pfaffe« nicht mehr als »bösartiges Element« und »Staatsfeind«.

Daniel erzählt sich in diesem Buch selbst, er erzählt dieses Westberlin, er erzählt, wie etwas aufbricht in einem jungen Menschen, der bereits auf der ersten Seite gesteht: »Anständig – das war eines der wichtigsten Worte meiner Kindheit.« Wie nun wird die große Freiheit erfahren, wenn man aus einer kleinen Ordnungswelt der »Festlegungen« kommt? Lässt – zwischen Mittagssegen, Lateinliebe, Kneipen und Bill Haley im Sportpalast – endlich diese innere Unruhe nach, nirgends dazuzugehören?

Im Autor Hein lebt die spröde Einzelköpfigkeit eines Menschen, der Kräfteverhältnisse sorgsam umkreist, der mit intelligenter Vorsicht in die jeweilige Runde tritt und schreibend spricht. Äußerlich eher ein Beiseitegehender, ein absichtsvoll Randständiger, im Innern der Dinge aber ein Rebell. Hein schildert in seinen Büchern Menschen in Schutzräumen zwischen Bestand und Bruch. Er verwendet alle erfinderische Genauigkeit darauf, Geschehnisse nicht mit einer vorgezogenen, gestülpten Bedeutung zu belasten. Ja, da ist nichts Gleißendes.

Auch dieser Roman macht wie alle Werke Heins – vielleicht noch konsequenter – aus Realität nichts, was nicht mählich, unspektakulär aus ihr entstünde. Alles wird aufs Strengste kultiviert und in ein Werkzeug zur Beobachtung von Wirklichkeit verwandelt, in eine Wahrheit hinter den Mustermessen der Deutungsbranchen. Es gibt eine Wahrnehmungspräzision, deren gleichmäßiger Puls letztlich doch ein Beben erzählt.

Dass dieser Schriftsteller auf Ausschmückung und Arabeske verzichtet, ist zuallererst Konzentration, und zwar auf das, was hinter jeder kühlen Chronik erhellenswert ist: die Erinnerungswürde. Mit der Stahlseilkraft des Scheuen und einer Besonnenheit, die kein Gegensatz zur Entschiedenheit ist, legt Hein Nachkriegsgeschichte frei, das Zerren zweier Deutschländer an Seelen und Stimmungen. Nicht gekettet an eine Gesinnungspflicht, die das Schwerelose aus dem Körper treibt; nicht geschmiedet an eine Ästhetik, der die forsche Frontentziehung wichtiger ist als vorsichtiges Bedenken und Innehalten.

Diese Literatur stellt sich mit souveräner Beiläufigkeit gegen Leute, die bei Welterklärungen auf eine Weise recht haben, dass man fürchten muss, sie könnten irre werden am ständigen Durchblick. Ihr Bewusstsein trägt Allwetterkleidung, an ihrem Denken klebt eine Vignette: Dauerstellplatz auf der richtigen Seite. Hein gehörte schon in DDR-Zeiten zu den Schriftstellern, die um diese vermeintlich richtige Seite einen großen Bogen schlugen. Dort nämlich lebt nichts, und dort hat Erinnerung keinen lebendigen Sinn.

DDR? Berlin? Alle Romane Heins sind konkret, ohne regional zu verkümmern. Nie teilnehmend an einer forsch auftretenden Geschichtlichkeit. Aber fühlend mit denen, die irgendetwas auf andere Gleise führt. Oder aus Bahnen wirft. Daniel, der Feingeist und Theaterliebhaber, der konfrontiert ist mit krummen Geschäften und kalten Herzen, aber auch mit den Aufhilfen der Kunst und wahrer Kameradschaft – er wird am Ende, vom plötzlichen Mauerbau, in eine neue Existenzhärte getrieben. Der Osten hat ihn wieder, aber die DDR wird ihn nie bekommen. Was ist Charakter, was Entwicklung? Jedes Für wird zum Lockruf fürs Wider, so zeigt der seelische Reichtum wachsendes Konto. Aber das Außenseitertum, das in solcher Art beschlossen ist, muss man schon auch ertragen wollen. In der Literatur, im Leben. Es gibt keinen einzigen Menschen, der durch fremde Macht nicht irgendwo auf seiner Seele Totenflecke bekäme.

Deutsche Geschichte: Was einzig zählt, ist die Steinbruchrechnung; gültige Urteile spricht lediglich das Scherbengericht. Was an die Welt bindet, befreit immer auch von Welt. So kommt man doch aber ins Schweben – über einem Boden, der einen freilich nicht aus jener bleibenden Gefahr entlässt, immer auch hinab- und nur hinabgezogen zu werden. Letztlich ist dieses unaufwändige, nahezu stille Erzählen vom Leben zwischen frontstädtischem West und Ost, zwischen Fluchtangst und Fluchthilfen, eine schöne, beinah heitere Fürbitte: mit sich selbst in sorgsamer, sorgebewusster Zwiesprache zu bleiben. Als wäre zwischen all dem politisch Kruden aller Zeit und allen Staubs ein tröstender Einklang möglich, wie immer auch die jeweiligen politischen Verhältnisse beschaffen sein mögen.

Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit. Suhrkamp, 221 S., geb., 24 €.

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