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Alexander Kluge: Den Nebel des Krieges lichten

Alexander Kluge im Gespräch über politische Alphabetisierung, eiserne Särge und den Antikrieg

Staunen lernen: Tierbilder treffen auf Kriegsfotografien.
Staunen lernen: Tierbilder treffen auf Kriegsfotografien.

Es ist ein beeindruckendes Bild, hinter dem eine sehr einfache Idee steht: Wir sehen ein Flugzeug in der Luft, ein Mitreisender attackiert den Piloten. Es handelt sich um einen Kampf, der, wenn er nicht beigelegt wird, nur eine Katastrophe zeitigen, keinen Sieger hervorbringen kann. Der Absturz ist gewiss, sofern das Kämpfen nicht eingestellt wird. Ein kluges Sinnbild für den Krieg, auch für jenen, der im vergangenen Jahr Europa jäh aufgeschreckt hat.

Es handelt sich um eine Zeichnung, die 1932 in einer Illustrierten abgedruckt war. Im Erscheinungsjahr, im Vorjahr der Machtübernahme durch die Nazis, ist Alexander Kluge in Halberstadt zur Welt gekommen. Er zählt zu den wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart, ist Jurist, Filmemacher und Produzent. Sein Hauptwerk aber, so sagt er, sind seine Bücher. Dieser Tage ist Alexander Kluges neuestes Buch, ein schmaler Band mit dem Titel »Kriegsfibel 2023«, erschienen, in dem sich auch die Abbildung vom Luftkampf wiederfindet.

Lernen, lernen und nochmals lernen

Wir verabreden uns, um über dieses Buch zu reden, zu einem Videotelefonat. Alexander Kluge und ich sitzen uns gegenüber, vor dem Bildschirm, er in München, ich in Berlin. Was das eigentlich ist, eine Fibel, will ich von ihm wissen, und ob es sich dabei überhaupt um ein probates Mittel handelt, ein Phänomen wie den Krieg begreifbar zu machen.

»Das Wort ›Kriegsfibel‹«, erklärt Kluge, »ist durch Brecht legendär geworden. Fibel bedeutet lateinisch ›Spange‹. Wenn man Papierseiten mit einer Reißzwecke oder Spange aneinander befestigt, hat man ein provisorisches Manuskript, eine Fibel. Eigentlich sind Fibeln aber für den Elementarunterricht gedacht, und eine ›Kriegsfibel‹ ist für die politische Alphabetisierung gedacht. Die Idee finde ich sehr schön, dass man immer neu anfangen muss zu lernen. Und der Krieg ist ja unglaublich erfinderisch. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Erscheinungen wie im Dreißigjährigen Krieg wieder auftauchen, dass also auf verschiedenen Ebenen zahllose Mächte miteinander im Konflikt sind – und für die man alle einzeln verhandeln muss, um zu einem Frieden zu kommen. Wenn der Krieg einmal ausgebrochen ist, dann ist dieses Monstrum in der Welt. Wir können gar nicht genug studieren, um ihm auf die Schliche zu kommen. Solange bleiben wir Analphabeten in Bezug auf 1000 Jahre Krieg.«

Ein neues ABC

Bertolt Brecht stand also Pate. Dessen »Kriegsfibel« erschien nach erheblichem Widerstand erstmals 1955 in der DDR. Im dänischen Exil begann er in den 40er Jahren damit, Fotografien vom Kriegsgeschehen in Zeitungen zu sammeln. Diese klebte er auf schwarze Tafeln, versah sie mit Bildunterschriften und vierzeiligen gereimten Versen. Brechts Genre der »fotoepigramme« war geboren. Seine Foto-Text-Montagen machen den Krieg als globales Ereignis erkennbar und verfehlen ihre aufklärerische Wirkungsabsicht nicht.

Kluge ist kein Kopist. Von Brecht übernimmt er das Grundthema, den Glauben daran, Verhältnisse erklärbar machen zu können, und das Prinzip der Montage. Montiert werden hier kurze Texte, Momentaufnahmen aus einer Chronik der Menschheitsgeschichte, daneben Anekdotisches, Erkenntnisse aus der Psychologie. Angereichert werden diese durch Fotos, unterbrochen durch QR-Codes, die das Buch medial erweitern und die zu Filmen führen.

Es sind übervolle 126 Seiten, ein Komprimat von »Erfahrung der Geschichte«. So bezeichnet Kluge das Ergebnis seiner »archäologischen Methode«. In sechs Stationen ist der Band gegliedert. In unserem Gespräch springen wir zunächst von Russlands Krieg in der Ukraine zum Zweiten Weltkrieg, von der Atombombe zur Oper und von Till Eulenspiegel zu Gorbatschow. Der Autor regt an, systematisch vorzugehen, und so widmen wir uns dann einem Kapitel nach dem anderen.

Urvertrauen und Humor

Kampf in der Luft: Ein Krieg ohne Sieger
Kampf in der Luft: Ein Krieg ohne Sieger

»Der Krieg ist wieder da« ist »Station 1« überschrieben. Kluge geht von der eigenen Familiengeschichte aus. Seine Mutter war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs sechs Jahre alt, er ist sieben, als der Zweite Weltkrieg beginnt. Er sei damals zum Chronisten ohne Fibel geworden. Verstanden habe er das meiste erst 30 Jahre nach dem Krieg, und doch seien elementare Erfahrungen auch ohne analytisches Verstehen möglich.

»Die Frischgeborenen«, stellt er mir gegenüber fest, »sind für mich die wichtigste Kritik am Krieg. Die gesamte Bosheit der Menschheit, die organisierte Aggressivität, die wir in unserer Gesellschaft haben, ist einem Kind, das geboren wird, gar nicht mitgegeben. Das Erste, was ein Kind macht, ist – Freud nennt das die Gründung von Urvertrauen – ein Friedensschluss mit der Mutter: Du sollst mich nicht töten, ich will dich im Alter versorgen. Das ist die Beendigung eines uralten Krieges, bei dem in Notzeiten die Mütter die Kinder umgebracht haben oder bei dem, wenn sie einen anderen Mann heirateten, die Kinder aus der alten Ehe verjagt haben – die Löwen machen es immer noch so.«

Kluge wirbt für die Kinderperspektive zum Verständnis des schwer analysierbaren Phänomens Krieg. Blättert man in dem Kapitel bis zum Ende und folgt dem QR-Code, führt er einen zu dem Film »Frühling mit weißen Fahnen«. Helge Schneider begegnet uns darin. Der trockene Volkswitz aus Mülheim, so wie ihn Kluge in ähnlicher Weise aus Halberstadt kennt, so sagt es der Schriftsteller im Gespräch, sei entwaffnend.

Menschliche Schildkröten

Der Dramatiker Heiner Müller, der zu den Freunden Kluges zählte, hatte in einem Gespräch, so ist im Buch nachzulesen, einmal gesagt: »Getroffene Panzer sind eiserne Särge.« »Die Utopie der Panzerung« – wir befinden uns an »Station 2« – heißt das Kapitel, in dem wir diesen Satz finden. Das utopische Moment des Panzers, die Vorstellung von Sicherheit, bleibt ein Phantasma. Ist das erkannt, werden neue Utopien – solche der Entpanzerung, der Abrüstung – denkbar. »Eine Fibel ist gut dafür, Unterscheidungen zu treffen«, sagt Kluge lachend, »man darf den Indikativ nicht mit dem Konjunktiv verwechseln.« Das Nachdenken über die Zukunft könne Lust machen auf Friedensschlüsse.

Das Staunen der Tiere

Gegen die »Kriegsfibel 2023« wurde von Kritikern der Vorwurf erhoben, sie ignoriere den Krieg in der Ukraine. Dabei ist allzu offensichtlich, dass dieser der äußere Anlass für die Publikation ist. Die Komplexität des Krieges erfordert aber einen multidimensionalen Zugang. »Station 3« nähert sich auch geografisch dem jüngsten Schrecken in Europas Osten und untersucht vorangegangene Konflikte.

Darüber hinaus schafft Kluge eine überzeugende Bildebene, für die er sich auf Walter Benjamin, einen seiner Gewährsmänner, beruft. Dessen Lieblingsbuch war das enzyklopädisch angelegte »Bilderbuch für Kinder« des Verlegers Friedrich Justin Bertuch aus dem Jahr 1807. Die Tierabbildungen überträgt Kluge in Bilder der Gegenwart. »In die aktuelle Szenerie des ATAVISTISCHEN KRIEGES in der Ukraine versetzt, staunen diese Tiere«, schreibt er. Nach der Wirkungsabsicht dieser Montagen gefragt, sagt er: »Ich lasse den Antirealismus des Gefühls, den Antirealismus langer Zeiten in die gegenwärtige Realität eindringen. Der antirealistische Eindruck – ›Das kann es doch nicht geben!‹ – bringt uns zum Nachdenken.«

Falsche Gründe, falsche Enden

Dem Kapitel über Osteuropa folgt jenes über Nordamerika, ein Lehrstück über nur vermeintlich erledigte Kriege. Kluge kommt im Gespräch auf den Amerikanischen Bürgerkrieg: »Zu den Konföderierten gehörten Staaten wie Pennsylvania und Virginia, in denen im 18. Jahrhundert die Freiheit gegenüber England deklariert wurde. Das sind die Urstaaten, die die Verfassung gemacht hatten. Die werden plötzlich irritiert durch die Migranten im Norden und die dortige Industrialisierung, auch durch den Puritanismus und seine Moralisierung. Das führt dazu, dass sie Sezession betreiben, worauf die Bundesregierung Gewalt übt und Gegengewalt entsteht.«

Kluge fährt fort mit dem Entscheidenden: »Das löst fünf Jahre Krieg aus, und nach der Kapitulation ist der Krieg nicht zu Ende. Jetzt kommen die ganzen Akquisiteure, die Steuereinnehmer, die korrupten Beamten, die Befehlshaber, die Geld machen wollen – eine Welle des räuberischen Kapitals, verbunden mit einer räuberischen, korrupten Regierung. Dass die Schwarzen befreit werden, ist nicht wahr. Sie kommen in die Ghettos. Vorher wurden sie wie Rennpferde gehalten, nicht wie Menschen, sondern wie Tiere, die wertvoll sein könnten. Damit spreche ich nicht für die Sklaverei. Aber: Das war nicht der Kriegsgrund. Das war bloße Behauptung. Danach erst gibt es einen langen Gang der schwarzen Emanzipation.«

Warum erzählt Kluge das? Wir müssten eine Theorie der falschen Kriegsgründe entwickeln, und auch der Blick auf die falschen Kriegsenden könne lehrreich sein. Das falsche Kriegsende 1918 in Versailles habe automatisch den nächsten Krieg 1939 ausgelöst. Ein richtiges Kriegsende sei beispielsweise der Westfälische Friede gewesen, der den Dreißigjährigen Krieg auf Dauer beendet habe.

Mangelnde Sicht

Ein interessantes Paradox, sagt Kluge zu mir, sei doch, dass derjenige, der im Krieg tätig sei, fast überhaupt nichts verstehe. Ein unpopuläres Statement in einer Zeit, in der die Betroffenenperspektive Analysen abzulösen droht. »Nebel des Kriegs« nennt Kluge sein vorletztes Kapitel, »Station 5«. Ein Verweis auf die intellektuelle Herausforderung, die die Auseinandersetzung mit dieser Form der Unpolitik bedeutet. Der Krieg setzt gewohnte Gesetzmäßigkeiten außer Kraft, bewegt sich in den Bahnen nicht gekannter Widersprüche. Kluge spricht von einer »verknäulten Dialektik«.

(Kein) Absturz

Angekommen bei der letzten »Station« – Lektion wäre vielleicht ein zu didaktisches, aber kein falsches Synonym –, findet sich in mehreren Varianten auch das beschriebene Bild vom Luftkampf, das die fundamentale Gefahr des Krieges darstellt. Das allmähliche Begreifen des Schreckens, Kluges ambitioniertes Projekt der Alphabetisierung, umkreist letztlich dieses Bild immer wieder und zeigt es von vielen seiner Seiten, aus vielen Perspektiven. »Lerne das Abc, es genügt nicht, aber / Lerne es!«, heißt es bei Brecht. Kluge hilft lernen, und doch bleibt die Entwicklung von so etwas wie Verständnis eine unabgeschlossene Aufgabe. In wohl keiner anderen Frage als der nach Krieg und Frieden ist sie so dringlich. Häufig entstehe Antikrieg aber bereits, weiß Alexander Kluge, während der Krieg noch wüte. Die Beendigung eines Krieges bedeute nicht weniger Anstrengung als dessen Auslösung.

Alexander Kluge: Kriegsfibel 2023. Suhrkamp, 126 S., geb., 16 €.

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