Halle-Neustadt: Zurück zum Beton

Die Audioinstallation »HaNeu23« beschreibt den Traum von einer anderen Form des Wohnens

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Zukunft zugewandt: Karoline Stegemann begleitet als Performerin die Audioinstallation »HaNeu23«.
Der Zukunft zugewandt: Karoline Stegemann begleitet als Performerin die Audioinstallation »HaNeu23«.

Steigt man die Treppen der unterirdischen S-Bahnstation Halle-Neustadt herauf, trifft man bald auf einen leeren Platz. Halb gepflastert, halb mit Sand bestreut, lädt er an diesem grauen Apriltag nicht zum Verweilen ein. Die weitläufige Fläche zwischen dem kaum gealterten Nachwendeeinkaufscenter und den fünf prägenden Plattenbauten des Viertels ist vor allem Transitraum.

Solange sich Karoline Stegemann erinnert, klaffte im Herzen der in den 60er Jahren errichteten Chemiearbeiterstadt eine Leerstelle. »Eine Brache im Zentrum. Wo ist dann der Ort für die Leute?«, fragt sie im Interview mit »Radio Corax«. Die 1987 in Halle geborene Schauspielerin und Theatermacherin erzählt im performativen Hörstück »HaNeu23« von den Hoffnungen, die die Eröffnung der neuen Stadt begleiteten und welche Zukunftsvisionen uneingelöst blieben.

Die Mitte dieser Brache bevölkert heute das Publikum, das mit Kopfhörern auf einem Podium der Text- und Musikcollage über Aufbau und Zerfall der »sozialistischen Stadt der Chemiearbeiter« folgt. Währenddessen schweift der Blick über die fünf Scheiben. So heißen die hintereinander angeordneten 18-Geschossser, in denen sich Vergangenheit und Zukunft des Stadtteils verbindet. Während Scheibe A nach einem Bürgerentscheid als Sitz der Hallenser Stadtverwaltung renoviert wurde, stehen die hinteren Gebäude leer. Fehlende Außenwände in Scheibe C legen das Betongerippe der Halleschen Monolithbauweise frei, in das Einheiten für ein Studierendenwohnheim eingeschoben werden sollen.

Langsam kehrt das Leben in die 1970 erbauten Wahrzeichen zurück, die wie die Wohnkomplexe in ihrer Umgebung heißbegehrt waren. Einheiten teilte man nach Losverfahren zu, Klassenunterschiede hoben sich auch in der Architektur auf. Die ersten Mieter stapften durch tiefen Matsch, um vom Block zur Haltestelle zu gelangen, erfährt das Publikum im Hörstück. Gekleidet in leuchtendes Orange, schreitet Stegemann im Einklang mit den schmatzenden Schritten in der Audiocollage um das Besucher*innenpodest, das der in Ha-Neu aufgewachsene Dramaturg, Bühnen- und Kostümbildner Johannes Weilandt entwarf.

Als stumme Performerin begleitet Stegemann die 70 Jahre Geschichte mit prägnanten Gesten und lenkt die Blicke des Publikums. Am Rande der Treppe, die in die zweistöckige Einkaufspassage unter den Scheiben führt, nimmt sie eine Pose aus der realsozialistischen Bildsprache ein. Ihr Blick weist in die Zukunft. Dann schreitet sie in zügiger Geschäftigkeit die Brücken ab, die den Graben der Einkaufsstraße überspannen. Ihre Stimme berichtet von Erfahrungen ihrer Generation, die zwischen 1985 und 1995 im Osten aufwuchsen und die die Zeit politisch prägte. Die Erstbezieher*innen – heute im Rentenalter – schwärmen noch immer von den Vorzügen. Gleich um die Ecke finden sie Arztpraxen und Parks für die Naherholung.

Viel Licht und Grün sollte den Arbeiter*innen um den neu hochgezogenen Wohnkomplex herum geboten werden. Mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichten sie schnell die Chemieindustrie in den Buna- und Leunawerken. Aber sie lebten weit genug entfernt, um von den beißenden Dämpfen der Fabrik verschont zu bleiben. Die Stadt pulsierte im Takt des Schichtsystems, aber die Freizeit der Arbeiter*innen kam zu kurz. Ein geplantes Kulturzentrum wurde nie realisiert und Künstler*innen zog man erst spät in der Planungsphase heran.

»Chemie gibt Brot, Wohlstand, Schönheit«, wiederholt eine Kinderstimme das Motto des Chemieprogramms. Die anschwellende Musik, komponiert von Chiara Strickland, mischt Zweifel in das Versprechen. Wurde hier die Schönheit zugunsten der Zweckmäßigkeit vernachlässigt? Die Zeitzeug*innen erzählen von Stolz und Gemeinschaft, wenn sie sich an die ersten 30 Jahre in Ha-Neu zurückerinnern. Heute gilt die Platte nach westlichem Maßstab als hässlich, der eingemeindete Stadtteil wurde zum sozialen Brennpunkt erklärt. Der Traum vom Eigenheim nahm in der Zeit nach dem Scheitern des Sozialismus zu. Dabei kann die Plattenbauweise schnell bezahlbaren Wohnraum schaffen, wie er in den Großstädten auch heute dringend nötig ist. Das Hörstück erinnert an die visionäre Kraft der sozialistischen Moderne. Wohnraum, nicht bestimmt von Renditeerwartungen, sondern von den Bedürfnissen der Menschen.

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