Die Töchter des Generals

Gottfried Paasche erzählt die wahre Geschichte der Familie Hammerstein

  • Nathaniel Flakin
  • Lesedauer: 5 Min.
Brennende russische Siedlung unmittelbar nach der heimtückischen Grenzüberschreitung der Hitlerwehrmacht im Juni 1941. Vor dem deutschen Überfall wurde Stalin aus mehreren Quellen gewarnt – vergeblich.
Brennende russische Siedlung unmittelbar nach der heimtückischen Grenzüberschreitung der Hitlerwehrmacht im Juni 1941. Vor dem deutschen Überfall wurde Stalin aus mehreren Quellen gewarnt – vergeblich.

In der dritten Stafel der Fernsehserie »Babylon Berlin« gibt es eine Figur names Marie-Louise Seegers. Als Tochter des Generalmajors Seegers bewegt sie sich in Kreisen von rechten politischen Eliten. Doch sie selbst ist überzeugte Kommunistin und klaut Geheimdokumente von ihrem Vater, die bald darauf in kritischen Zeitungen abgedruckt werden. Das mag alles unglaubwürdig klingen. Nur: Die historische Vorlage für die Figur ist noch seltsamer. Kurt von Hammerstein war Chef der Obersten Heeresleitung von 1930 bis 1934. Seine Tochter Marie Luise war überzeugte Marxistin und spionierte für den KPD-Nachrichtendienst, den M-Apparat. Ihre Geschichte ist oft in Romanen verarbeitet worden — allerdings als junges Ding, das von männlichen Kommunisten manipuliert wurde. Wie eine neue Biografie der drei ältesten Hammerstein-Töchter zeigt, fand »Butzi«, wie sie genannt wurde, selbst ihren Weg zur Revolution.

Doch Marie Luise war nicht die einzige. 1929 wurde sie von ihrem kleinen Bruder beobachtet, wie sie einen Brief vom Schreibtisch ihres Vaters einsteckte. Der Brief erschien wenig später in der »Roten Fahne«. Die eine Tochter ist damit aufgeflogen und der M-Apparat musste den Kontakt abbrechen. Daraufhin trat die kleine Schwester Helga, erst 17 Jahre alt, ebenfalls in den Dienst der KPD ein. Helga war es, die 1933 die Mitschrift einer Geheimrede Hitlers vor den deutschen Generälen entwendete und prompt nach Moskau weiterleitete.

Beim Adelsgeschlecht der Hammersteins verdichtet sich sehr viel deutsche Geschichte. Zwei Söhne des Generals waren am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt. Ihr Großvater, Walter von Lüttwitz, war ein rechtsextremer Offizier, der 1920 einen Putsch gegen die Weimarer Republik anführte. Zwei ihrer älteren Schwester waren Kommunistinnen. Das ganze politische Spektrum war also vertreten. Gottfried Paasche, ehemaliger Soziologieprofessor an der kanadischen York-University, hat den drei Töchtern ein Buch gewidmet. Er ist kein »neutraler« Forscher, sondern Sohn der zweiten Hammerstein-Tochter, Maria Therese. Seine Arbeit basiert teilweise auf schriftlichen Quellen, aber auch auf jahrzehntelangen Unterhaltungen innerhalb der Familie.

Auch ohne einen Anmerkungsapparat bringt Paasche neue Erkenntnisse ans Licht. Marie Luise, die älteste Tochter, lebte nach 1945 in Ost-Berlin (sie wollte ihre Kinder in einem Land großziehen, wo die Lehrer und Richter keine Nazis waren) und konnte sich zu ihrer Spionagetätigkeit bekennen. Helga dagegen lebte im Westen der Stadt und musste bis zum Ende ihres Lebens schweigen. Die Töchter dieses konservativen preußischen Generals waren erst beim Wandervogel aktiv und gingen später nach Neukölln, wo sie die Welt der kommunistischen Arbeiter kennenlernten. Als Marie Luise und eine Freundin in die KPD eintreten wollten, horchte jemand auf: Diese jungen Frauen lebten in einer Wohnung im Bendlerblock zusammen mit dem Chef des Truppenamts! Solch unglaublich gute Quellen wurden prompt vom Nachrichtendienst rekrutiert. Schlüsselfigur war der jüdische Jungkommunist Leo Roth, der eine führende Rolle bei der sowjetischen Spionage in Nazideutschland einnahm — gleichzeitig war er Helgas Freund.

Im Mittelpunkt dieses Buches steht die zweite Tochter, Maria Therese, die Mutter des Autors, die ihre Utopien nicht beim Kommunismus, sondern beim Zionismus und später bei der rechts-esoterischen Sekte von Rudolf Steiner (Anthroposophie) suchte. Auch sie blieb eine unbiegsame Nazigegnerin: Sie verließ Deutschland 1935, verbrachte die Kriegsjahre in Japan und wanderte anschließend in die USA aus. Nie wieder lebte sie in Deutschland.

In den 1920er Jahren galt Hammerstein als ein »roter« General. Das sollte nicht heißen, dass er Sympathien für den Sozialismus hegte. Vielmehr war er beteiligt an der geheimen Zusammenarbeit zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee und entwickelte einen gewissen Respekt vor den Sowjets. Im damaligen Offizierskorps galt alles als »rot«, was auch nur ein bisschen links von Dschinghis Khan meinte. Hammerstein schätzte vor allem die militärischen Kräfteverhältnisse realistisch ein: »Ich führe keinen Krieg gegen die Russen«, betonte er einmal. Bei Hitlers Machtantritt empfand er ein tiefes Unbehagen – aber das machte ihn längst nicht zum Antifaschistischen oder zum Widerstandskämpfer.

Hammersteins Laufbahn war geprägt von der blutigen Niederschlagung der Revolution von 1918/19. Er hatte für »Ruhe und Ordnung« in der aufrührerischen Hauptstadt zu sorgen. Weniger euphemistisch ausgedrückt: Seine Truppen ermordeten Tausende revolutionäre Arbeiter*innen. Die Geister, die er rief, waren die rechtsextremen Freikorps — und diese gruppierten sich später in der NSDAP neu. Hammerstein mag sich eine konservative, adelige Republik gewünscht haben. Doch die halbe Konterrevolution von 1918 mündete in der ganzen Konterrevolution von 1933. Hammerstein und viele Adelige erschraken vor der letzten Konsequenz der eigenen Politik.

Als sein Freund Kurt von Schleicher 1934 von der SS ermordet wurde, war Hammerstein schockiert. Dass die Nazis »auch Gentlemen« ermorden! Das war eine »rote Linie« für ihn. Keine rote Linie war es für ihn, als seine Soldateska Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und so viele andere massakrierte. Seinen Töchtern fiel der Widerspruch auf. Eine von ihnen bewunderte Rosa Luxemburg und fragte: »War sie für ihn kein Mensch?«

Stärke und Schwäche dieses Buches sind die persönliche Sympathie und der tiefe psychologische Einblick bei allen Mitgliedern der Familie. Das ist beim General manchmal irritierend, etwa wenn wir erfahren, dass der Massenmord Anfang 1919 für ihn eine »Belastung« war. In der heutigen bürgerlichen Republik werden konservative Adelige, die sich in letzter Sekunde von Hitler abgewendet haben, zu »Widerstandskämpfer*innen« hochstilisiert (siehe Hohenzollern-Clan). Hammersteins Töchter aber zeigen, welchen Mut wirklicher Widerstand erforderte.

Die große Tragödie der kommunistischen Spionage gegen Hitler war, dass ihre Opferbereitschaft verschwendet wurde. Rote Agent*innen in verschiedenen Ländern lieferten präzise Warnungen zu den faschistischen Angriffsplänen gegen die Sowjetunion. Doch Stalin, auf sein Bündnis mit Hitler vertrauend, ignorierte sie alle. Der Militärpolitische Apparat der KPD wurde zerschlagen. Leo Roth etwa wurde 1936 in die Sowjetunion beordert und mit nur 27 Jahren von seinen Vorgesetzten erschossen.

In der letzten Staffel von »Babylon Berlin« wird Marie-Louise Seegers als Verlobte eines rechtsextremen Verschwörers gezeigt. Die echte Geschichte ist besser als die Verfilmung!

Gottfried Paasche: Hammersteins Töchter. Eine Adelsfamilie zwischen Tradition und Widerstand. Metropol, 352 S., geb., 24 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -