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Das Recht, bleiben zu dürfen
Sonja Buckel und Judith Kopp plädieren für eine Debatte von Fluchtursachen in sozialen und globalen Kontexten
Positiv überrascht zeigen sich Sonja Buckel und Judith Kopp, »dass Europa völlig selbstverständlich und verhältnismäßig unkompliziert Menschen aufnimmt – insbesondere die Mitgliedstaaten Osteuropas, die sich bisher durch eine strikte Ablehnung der Aufnahme von Migrant*innen hervortaten«. In ihrem vorherigen gemeinsamen Buch sind die Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Universität Kassel sowie die Sozialwissenschaftlerin, die von 2011 bis 2018 für Pro Asyl tätig war, noch davon ausgegangen, dass »der Sommer der Migration und seine Willkommensbewegung ein für lange Zeit singuläres Ereignis« sei und »die Tore Europas wieder verschlossen« würden.
Ja, wenn man an die aus ihrer Heimat durch die russische Invasion vertriebenen Ukrainer und Ukrainerinnen denkt, stimmt die Beobachtung eines freundlichen Empfangs. Aber all den anderen, die nach wie vor aus dem globalen Süden vor Hunger, Bürgerkriegen, politischen, ethnischen und religiösen Verfolgungen in die vermeintlichen Wohlstandstaaten respektive Demokratien des Nordens zu gelangen versuchen, zeigt die Europäische Union die kalte Schulter. Immer wieder kentern Boote mit afrikanischen Flüchtlingen im Mittelmeer, ertrinken Männer, Frauen und Kinder auf hoher See, allein in diesem Jahr schon wieder über 450 Menschen. Seit 2014 starben über 20 000 im Mare Nostrum, wie jüngst eine internationale Menschenrechtsorganisation bekannt gab. Das wissen natürlich die Verfasser dieses interessanten, hoch informativen und wissenschaftlich-akribisch verfassten Bandes selbst. Sonja Buckel und Judith Kopp sind nicht naiv. Sie befürchten nicht zu Unrecht, dass »die Offenheit und Aufnahmebereitschaft, wie wir sie jetzt wieder beobachten, Widerstände reaktionärer Kräfte hervorrufen werden – und die können den Diskurs wieder verschieben«.
Anspruch des Autorenduos ist es, Fluchtursachen zu analysieren. Diese entdecken sie im nach wie vor eklatanten Nord-Süd-Gefälle. Die beiden Wissenschaftlerinnen wollen jedoch nicht nur über »Probleme« reden, sondern globale Ungleichheitsverhältnisse klar benennen. Diese hätten sich nicht mit dem Neoliberalismus, sondern schon mit dem Fordismus der 70er Jahre verschärft. Die Autorinnen wollen das Leid der Futtermittelproduzent*innen in Südeuropa ebenso wie der Kleinbäur*innen im subsaharischen Afrika, der migrantischen Erntehelfer*innen aus Südeuropa sowie der Textilarbeiter*innen in Südostasien mit der Wurzel ausgerissen wissen. Deren Leid ist gleichermaßen verschuldet vor allem durch die großen, multinationalen Agrar- und Ernährungskonzerne, Textil- und Autofabrikanten.
Sonja Buckel und Judith Kopp verteidigen »das Recht, nicht gehen zu müssen«. Kaum jemand verlässt seine Heimat gern, freiwillig und ohne Not. Dieses Buch ist ein Plädoyer für Bewegungsfreiheit, Ortswechsel und vor allem das Recht auf Asyl, das sich nicht nur auf politische Gründe beschränken sollte. Die Autorinnen wollen einen Perspektivwechsel im Diskurs über Fluchtursachen erreichen, der nicht nur auf die Zustände in den Herkunftsländern der Geflüchteten blickt, auf Armut, Korruption und Gewalt dort, sondern auch und insbesondere auf die »imperiale Lebensweise« in Europa, die auf »der Externalisierung von sozialen und ökologischen Kosten« beruht. Zu reden ist mittlerweile eben auch über Klimaflüchtlinge, die vor den verheerenden Folgen der Erderhitzung, Dürre wie auch Hochwasserkatastrophen fliehen.
Die Autorinnen verweisen auf UN-Konventionen und andere internationale Rechtsabkommen beziehungsweise Normen wie etwa von der ILO, International Labour Organization. Sonja Buckel und Judith Kopp sind überzeugt, dass Menschenrechte eng mit der sozialen Frage verknüpft und global zu beantworten und zu garantieren sind. Sie fordern Gerechtigkeitspolitiken, die »wesentlich für das Gelingen einer sozial-ökologischen Transformation« sind, die unverzichtbar ist für einen Abbau von Fluchtursachen.
Einen wesentlichen Akteur und Bündnispartner sehen die beiden Autorinnen in gewerkschaftlichen Aktivist*innen und anderen Vertreter*innen der Interessen von Arbeitnehmer*innen. Es geht um konkretes solidarisches Verhalten und Denken über nationalstaatliche Grenzen oder Standortkonkurrenzen hinweg. In diesem Kontext nimmt das Autorenduo auch die Wertschöpfungsketten transnationaler Unternehmen unter die Lupe, die mittlerweile rund 80 Prozent des Welthandels ausmachen. »Die Liefer- bzw. Wertschöpfungs- oder Warenketten reichen von der Gewinnung der Rohstoffe durch Zulieferer über verschiedene Schritte der Weiterverarbeitung, die Fertigung des Endproduktes bis hin zum Verkauf und gegebenenfalls der Produktwartung«, erklären die Autorinnen für mit der Materie vielleicht nicht so vertraute Leser. Inzwischen werden Unternehmen durch jüngst in Kraft getretene Lieferkettengesetze in die Pflicht genommen, zu verhindern, dass sich solch tragische Vorfälle wie der Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik in Bangladesch oder das Öl-Unglück im Niger-Delta wiederholen. Doch viel mehr ist noch zu tun.
Sonja Buckel und Judith Kopp listen auf: Gebot der Stunde sei es, eine Politik zu betreiben, die der Klimakatastrophe ernsthaft und wirksam etwas entgegensetzt. Und: »Eine faire Handelspolitik muss Staaten und Wirtschaftsgemeinschaften im globalen Süden einen ausreichenden Handlungsspielraum eröffnen für selbstbestimmte Agrar- und Industrieförderung.« Aber auch Arbeitszeitverkürzung, die vor allem, aber nicht nur dem Wohl der Arbeitnehmer*innen, ihrer persönlichen Entfaltung und zum Schutz ihrer Gesundheit dienen, zählen die Autorinnen zu den anstehenden Aufgaben. Sie verweisen auf eine britische Studie, die zu dem Ergebnis kam, dass eine nachhaltige Reduktion der Treibhausgasemissionen es erforderlich mache, die Wochenarbeitszeit radikal zu verkürzen. Und natürlich ist die Eindämmung oder besser noch der Stopp von Waffenexporten sowie eine restriktivere Rüstungskontrolle nötig, um Fluchtursachen abzubauen. »Schlussendlich gilt es, auf ein konsequentes Verbot von Rüstungsgütern hinzuarbeiten«, lautet das Fazit der Autorinnen.
Sonja Buckel und Judith Kopp haben ein wichtiges Buch verfasst, das Aktivist*innen, auf welchem Feld sie auch gesellschaftlich tätig sind, sowie Politiker*innen wärmstens zu empfehlen ist.
Sonja Buckel/Judith Kopp: Fluchtursachen. Das Recht, nicht gehen zu müssen und die Politik Europas. Bertz + Fischer, 183 S., br., 18,50 €.
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