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Das ewige Schisma
Wladislaw Hedeler zeichnet ein berührendes Porträt des russischen Marxisten und Menschewiken Julius Martow
Menschewik galt zu DDR-Zeiten als Schimpfwort. Nicht die Menschewiki, sondern die Bolschewiki waren die Sieger der Geschichte. Zur Spaltung kam es 1903 auf dem 2. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Russlands (SDAPR) in London, als eine Minderheit (menshinstwo) für eine gemäßigte bürgerliche Revolution in Russland plädierte, während die Mehrheit (bolshinstwo) für den radikalen Sturz des Absolutismus unter einer Avantgarde stimmte.
»Von denen, die in den Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrtausende unterlagen, haben es nur wenige auf Historienbilder geschafft. Eher findet man sie in der Unterwelt der und des Verdrängten«, bemerkt Wladislaw Hedeler eingangs seines beeindruckenden Porträts von Julius Martow (1873 – 1923): »1895 stand er zusammen mit Lenin an der Wiege der russischen Sozialdemokratie, 1903 wurde er das erste Opfer der leninschen Politik, die Rosa Luxemburg als ›eine Politik des ewigen Schismas‹ bezeichnete. Martows Scheitern ist der Welt nicht gut bekommen. Er wollte die Revolution, vor allem und zuerst in Russland zur Überwindung der Barbarei des Zarismus, und er wollte den Sozialismus, allerdings einen, der sich nicht würde rückgängig machen lassen.«
Geboren als Julius Zederbaum in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, als zweites Kind eines wohlhabenden Kaufmanns, der in der türkischen Metropole am Bosporus für die russische Schifffahrts- und Handelsgesellschaft tätig und ein Verehrer des revolutionären Demokraten Alexander Herzen war, gelangte der Junge als Gymnasiast in Odessa mit sozialistischem Gedankengut in Kontakt, las das »Kommunistische Manifest« und begeisterte sich für die Französische Revolution von 1789, weiß der kundige Biograf. Nach Abschluss des Gymnasiums 1891 studierte Martow, so sein späterer Deckname, Naturwissenschaften an der Universität von St. Petersburg, wo er bereits ins Visier der zaristischen Geheimpolizei, der Ochrana, geriet. Er gehörte zu den Mitbegründern der Gruppe Befreiung der Arbeit in der Stadt an der Newa, Keimzelle der russischen Sozialdemokratie. Seiner ersten Verhaftung folgte die Exmatrikulation. 1895 lernte er Wladimir Uljanow kennen, besser bekannt unter dem Namen Lenin, mit der er die Zeitung »Iskra« (Der Funke) aus der Taufe hob.
Doch schon auf dem Londoner Parteitag sollten sich beider Wege scheiden. Auf dem ersten Blick erscheinen die Differenzen gar nicht so eklatant. Hedeler zitiert aus den Referaten beider und erläutert die letztlich unüberbrückbare Kluft. Während Lenin auf der Formulierung beharrte: »Als Mitglied der Partei gilt jeder, der ihr Programm anerkennt und die Partei sowohl in materieller Hinsicht als auch durch die persönliche Betätigung in einer der Parteiorganisationen unterstützt«, plädierte Martow für eine »elastischere Formulierung«: »Als Mitglied der Partei gilt jeder, der ihr Programm anerkennt und die Partei sowohl in materieller Hinsicht als auch durch die Arbeit unter der Kontrolle und Leitung einer der Parteiorganisationen unterstützt.« Lenin beharrte also auf einer straff geführten zentralistischen Kaderpartei und bezichtigte Martow, der opportunistischen Zersetzung einer solchen, erklärt Hedeler, exzellenter Kenner russischer und sowjetischer Geschichte. Der als Sohn deutscher Kommunisten in deren sowjetischen Verbannungsort, Tomsk, geborene Wissenschaftler zitiert sodann das Verdammungsurteil aus dem »Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU«, erstmals 1938 erschienen und einstigen DDR-Bürgern in Neuauflagen gewiss noch bekannt: »Es ergab sich somit, dass die Martowleute anstelle einer Kampfpartei aus einem Guss, anstelle einer straff organisierten Partei … eine buntscheckige und verschwommene, eine ungeformte Partei haben wollten, die schon deswegen keine Kampfpartei sein konnte, weil sie buntscheckig gewesen wäre und einer festen Disziplin entbehrt hätte.«
Die Differenzen zwischen Martow und Lenin wurden nicht kleiner, im Gegenteil. Nach dem Sturz der bürgerlichen Kerenski-Regierung im Herbst 1917, in der sogenannten Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, warnte Martow vor einer Jakobinerdiktatur. Auf dem 3. Gesamtrussischen Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten im Januar 1918 kritisierte er, dass die »Sowjetmacht mit ihren letzten Maßnahmen, darunter dem Entzug des Wahlrechts für viele und der Auflösung der Konstituierenden Versammlung, den Spiegel zerschlagen hat, in dem sich der Volkswille zeigt«. Das Tischtuch war zerschnitten.
Martow starb fern der Heimat. Seine letzte Ruhe fand er auf dem Urnenfriedhof im Berliner Wedding. Hedeler, der sich für die damals wie heute vielfältigen und vielfach fraktionierten russischen Linken nicht nur persönlich interessiert, sondern deutschen Lesern seit Jahr und Tag nahezubringen bemüht, sei für dieses berührende Porträt, rechtzeitig zu Martows 100. Todestag am 4. April erschienen, zu danken. Ebenso dem Verlag, der dieses in seiner verdienstvollen Reihe biografischer Miniaturen aufnahm, die Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung gewidmet ist.
Wladislaw Hedeler: Julius Martow oder: Für die Diktatur der Demokratie. Karl Dietz, 200 S., br., 12 €.
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