Benjamin von Stuckrad-Barre: Starke Vermissung

Auf den Leim gegangen: Das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre ist das literarische Sittengemälde, das wir heute brauchen

  • Ioannis Dimopulos
  • Lesedauer: 6 Min.

Die meisten Rezensionen zu »Noch wach?«, dem neuen Roman von Benjamin Stuckrad-Barre gehen in die gleiche Richtung: In den Feuilletons der großen Zeitungen gilt er als erstes deutsches »MeToo«-Buch, das drei Wochen nach Erscheinen die »Spiegel«-Bestsellerliste anführt.

Der als Schlüsselroman beworbene Text spielt auf die Zustände beim Axel-Springer-Verlag an, auf den Abgang von »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt 2021, der nach verschiedenen Vorwürfen des Machtmissbrauchs entlassen wurde. Seitdem betreibt er erfolgreich einen Youtube-Kanal, der »Bild« noch rechts überholt.

Im Mittelpunkt von »Noch wach?« steht ein Ich-Erzähler, der zwischen Los Angeles und Berlin pendelt. Und es geht tatsächlich um sexuellen Missbrauch und um den Chefredakteur eines Fernsehsenders (nicht einer Zeitung), der das »Hochschlafen« zum System gemacht hat. Am Anfang des Romans ist der Erzähler dabei, als eine Mitarbeiterin des Senders am Rande einer Pool-Party in Los Angeles eine Nachricht des Chefredakteurs auf ihr Handy bekommt, worauf sofort ihre gute Laune verfliegt. Sie lautet: »Noch wach? Scheiß klimaanlage komm und wärm mich. Starke Vermissung. Bin da. Körper an körper JETZT. Wo du?«

Der Chefredakteur benimmt sich »wie Gott. Aber kein cooler Gott, wie man hier am Pool sagte«, schreibt Stuckrad-Barre. Er hat nur einen Typen über sich: den Besitzer des Senders, und der ist auch ein sehr guter Freund des Erzählers: »Es war ein seltsames Gespann. Mein so angenehmer Freund und dieser Krawalldödel, ich hatte diese Verbindung nie ganz begriffen. Meine Freunde sind deine Freunde – nein, nicht immer.« Vom Begreifen dieser ökonomischen Verbindung im Kontext patriarchaler Macht handelt »Noch wach?«.

Stuckrad-Barre war lange Starautor des Springer-Verlags und mit Mathias Döpfner, dessen oberstem Chef, befreundet. Stuckrad-Barre soll gegenüber der Konzernleitung Reichelts Wirken kritisiert haben. Dieser Kontext macht »Noch wach?« so interessant für die Feuilletons, die das Buch als Schlüsselroman lesen.

Gespickt wird dieses Thema im Roman durch typische Beschreibungen von dekadenter Gegenwart: das Chateau Marmont am Sunset Boulevard, in dem Promis ein und aus gehen, die Scheinverhandlung gegenwärtiger Debatten wie Repräsentationspolitik und Diversität, die stattfindet im Umkreis dieses ominösen Senders, der dem Axel-Springer-Verlag verdächtig ähnelt.

So findet sich auch das Figurenensemble zusammen. Die Figuren sagen eigentlich gar nichts mehr zueinander, sind austauschbar und äußern in den wenigsten Fällen mehr als irgendetwas Wohlfühliges. Fast alle haben irgendwie mit dem Sender zu tun, entweder sind sie befreundet mit der Führungsetage oder wurden von dieser sexuell belästigt. Doch die Geschichte über einen Mann, der die Vorwürfe gegen den Chefredakteur sammelt und versucht, diese öffentlich zu machen, und sich anschickt, die Opfer zu organisieren und zu vertreten, bleibt überraschend handlungsarm.

Es gibt nur zwei Höhepunkte, die sich auf viel weniger Platz als auf 384 Seiten hätten auserzählen lassen. In Hollywood macht Rose McGowan den Weinstein-Skandal publik, in Deutschland passiert Ähnliches mit dem Chefredakteur des »Brüllsenders«. Doch am Ende war alles angeblich ein Missverständnis, der Chefredakteur wird aus der Beurlaubung zurückgeholt, und die von ihm belästigten Frauen sind mehr oder weniger vergessen. Da hat die Öffentlichkeit den Skandal sowieso schon durch den nächstbesten ausgetauscht. Zwischen diesen beiden Höhepunkten reihen sich Gespräche mit denselben Abziehfigürchen, die alle mehr oder weniger dasselbe aufsagen. Die Figuren bleiben allesamt sehr typenhaft, sie entwickeln sich bis wenige Ausnahmen überhaupt nicht und bleiben eher kalt und statisch.

Ebendiese Statik wird Stuckrad-Barre als literarische Verfehlung vorgeworfen. In der »Süddeutschen Zeitung« moniert Marlene Knobloch die Abwesenheit von Tragik in dessen Roman – doch das ist der entscheidende Punkt, warum »Noch wach?« Stuckrad-Barre so gut gelungen ist: Er zeichnet eine Welt, in der sexuelle Übergriffe zu einer solchen Alltäglichkeit geworden sind, dass selbst die Berichterstattung darüber – wie etwa im Fall von Julian Reichelt – nur kurz aufblitzt, um kurze Zeit später wieder zu verpuffen. Obwohl die Systematik sexuellen Missbrauchs heute viel besser öffentlich einsehbar ist, wird sie weiterhin betrieben.

Stuckrad-Barres Roman stellt genau diese Alltäglichkeit des Skandalösen aus, indem er die Konsequenzlosigkeit zum treibenden Motor seines Romans macht. Es ist deshalb das Ende der Tragik, die diesen Roman so tragisch macht. Die Verhältnisse reproduzieren sich mit einer solchen Gewöhnlichkeit, dass von einem Skandal kaum mehr die Rede sein kann. Insofern ist »Noch wach?« das Gegenteil des MeToo-Romans, als der er beworben wird.

Um das zu erkennen, müsste man das Marketing einmal beiseitelassen, sich mit der Literarizität dieses Romans beschäftigen und diese trotz aller Erwartungshaltung ernst nehmen. Denn Stuckrad-Barres neuer Roman steht im Zeichen des Pop. Er ist subversiv, weil er die Oberfläche und damit die Oberflächlichkeit aktueller Debatten als Entsprechung oberflächlicher Menschen in Szene setzt. Dies merkt man auch auf der Textoberfläche selbst. So werden immer wieder inflationär genutzte Wörter, aber auch sich endlos wiederholende Phrasen in Versalien geschrieben: »DIE DA OBEN«, »MIT ANSAGE«, »DA BIN ICH GANZ EHRLICH«, »FÜHRUNGSKULTUR«. Man muss das Buch nur aufklappen, und schon wird man vom Sound des Immergleichen angesprungen.

So austauschbar wie die Skandale der Gegenwart sind deshalb auch die Figuren, die Stuckrad-Barre als solche zeichnet. Er trifft damit den Nagel auf den Kopf, denn das System dieses Fernsehkonzerns, oder was auch immer man dafür einzusetzen beabsichtigt, lebt von austauschbaren Funktionsträgern. Man tut deshalb gut daran, diesen Roman als Symptom der gegenwärtigen geistigen wie praktischen Passivität zu lesen und sich weniger darüber zu mokieren, dass der Roman gar nicht so sehr MeToo ist, wie das die Vorab-Interviews mit Stuckrad-Barre erhoffen ließen.

Stellvertretend für viele andere ist Iris Radisch in ihrer Rezension in der »Zeit« dem Marketing auf den Leim gegangen und hat die ausgestellte Oberfläche, die reine Beliebigkeit und die Bedeutungslosigkeit des Erzählten nicht etwa als Zeitdiagnose, sondern als literarischen Mangel verstanden. Dabei ist »Noch wach?« genau das, was die gegenwärtige Zeit für uns bereithält: die Bedeutungslosigkeit alles Lebendigen, die letztlich auch den Menschen bedeutungslos macht.

Übrig bleibt ein Sehnen nach Eindeutigkeit. Die sehr verkürzten Gleichsetzungen des Romans mit der Wirklichkeit, die keine ästhetische Distanz mehr zulassen, wirken so, als hätte man beim Eintritt in den Kulturjournalismus das Wissen um die Ambiguität der Kunst an der Pforte abgegeben. Wer jedoch Freude hat an einem Roman, der den Umgang mit gegenwärtigen Phänomenen ernst nimmt und nicht die gleichen paar Phrasen in jedes Gespräch hineinzupressen versucht, wird in Stuckrad-Barres Roman eine Kritik des gesellschaftlichen Stillstands entdecken.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach? Kiepenheuer & Witsch, 384 S., geb., 25 .

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