Pipelines für die Regionalmacht

Die Türkei wird zunehmend zur Drehscheibe für den asiatisch-europäischen Gashandel

  • Anselm Schindler
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Wahlkampf von Recep Tayyip Erdoğan läuft schlecht. Der türkische Staatschef versucht daher, mit Geschenken zu punkten. Für mehrere Wochen sollen die Menschen keine Gasrechnungen bezahlen müssen, hieß es kürzlich. Danach werde Gas bis zu einer bestimmten Menge pro Monat umsonst sein. Ermöglicht werden soll das auch durch die Erschließung der ersten türkischen Gasförderstätten im Schwarzen Meer.

2020 war hier bei Bohrungen ein großes Gasfeld entdeckt worden. Jetzt fließt das erste Gas, perfekt abgestimmt mit dem Wahlkampf Erdoğans. Zunächst sollen täglich 10 Millionen Kubikmeter durch eine Pipeline zum Hafen Filyos rund 400 Kilometer östlich von Istanbul fließen, erklärte der Präsident Ende April bei einer Pressekonferenz. Mit der Erschließung weiterer Gasfelder soll sich die tägliche Kapazität vervierfachen. Dann werde man damit 30 Prozent des heimischen Bedarfs decken.

Das kommt auch in Berlin und Brüssel gut an, wo man seit der Eskalation in der Ukraine händeringend nach Alternativen zu russischem Gas sucht. Die Türkei, die den fossilen Energieträger selbst auch aus Russland bezieht, soll bei der Versorgung Europas künftig eine noch größere Rolle spielen. Dabei geht es weniger um das Gas, das von der Türkei selbst gefördert wird, als vielmehr um den Ausbau des Gasflusses von Aserbaidschan und Zentralasien nach Europa. Das wurde zuletzt im Oktober 2022 beim Treffen des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck und des türkischen Energieministers Fatih Dönmez deutlich: »Die Türkei ist bereit, ihr Bestes zu geben, um nicht nur die eigene, sondern auch die Versorgung Europas mit Erdgas aus Turkmenistan und dem Kaspischen Meer zu verbessern«, erklärte Dönmez im Anschluss gegenüber CNN Türk.

Wie ein endlos langer Regenwurm ziehen sich miteinander verbundene Pipelines von den Gasfeldern im Kaspischen Meer bis nach Italien. Teile wurden erst in den letzten Jahren fertiggestellt. Dazu gehören die Transanatolische Pipeline, die von der Provinz Ardahan an der türkisch-georgischen Grenze durch Anatolien, das Marmarameer bis an die griechische Grenze führt, und die Trans-Adria-Pipeline, die das Gas weiter durch Griechenland und Albanien nach Italien leitet. Mehr als die Hälfte der Strecke fließt das aserbaidschanische Gas auf seinem Weg in die EU durch die Türkei und passiert dabei auch den türkisch-griechischen Grenzübergang, der spätestens seit der letzten großen Migrationskrise von Ankara als Machthebel gegenüber der EU benutzt wird. Seitdem sich Europa, vorangetrieben vor allem durch Berlin und Washington, von russischem Gas unabhängiger machen will, gewinnt die Türkei als Regionalmacht weiter an Bedeutung.

Während Aserbaidschan schon lange Bohrinseln unterhält, könnte Turkmenistan als Neuling im Geschäft hinzukommen. Das Land verfügt über die viertgrößten Gasreserven der Welt, gleich hinter Russland, Iran und Katar, nachzulesen im Weltenergiebericht des britischen BP-Konzerns. Nichts liegt da näher, als auch dieses Gas an das Pipelinenetz Richtung EU anzubinden.

Und dann gibt es da noch das Gas in den kurdischen Teilen des Irak. Entlang der Ölfelder und Raffinerien wird dieses bisher unentwegt abgefackelt, weil die Technologie fehlt, um es zu nutzen. Aus Sicht türkischer und europäischer Strategen wäre es naheliegend, das künftig zu ändern und neben den Öl-Pipelines in die Türkei künftig auch Gas-Leitungen zu verlegen.

Neben der EU zerrt auch Russland an der Türkei. Erdoğan verstand sich in den letzten Jahren recht gut darin, sich beiden Seiten anzubieten und damit möglichst viel für die regionale Vormachtstellung herauszuschlagen. Das Nato-Land, einst fest in den westlichen Machtblock eingebunden, tanzt Europa gerne mal auf der Nase herum, wenn es um Migrationsfragen oder die völkerrechtswidrige Besetzung von Teilen Nordsyriens geht.

Das doppelte Spiel des türkischen Regimes zeigt sich auch in der Gasfrage. Während Europa das Land braucht, um vom russischen Gas unabhängiger zu werden, fließt weiter russisches Gas durch türkische Gewässer und über das Festland in den Balkan. Erst 2020 wurde dafür Turk Stream fertiggestellt, eine vom russischen Energieriesen Gazprom finanzierte Pipeline. Für Russland ist diese auch deshalb wichtig, weil es sich seit dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipeline ebenfalls nach Alternativrouten umsieht.

Und dann ist da noch ein weiteres Land, das auf die Türkei schielt: Israel, das über nicht unerhebliche Gasfelder an der Mittelmeerküste verfügt, baut seine Förderkapazitäten seit Jahren aus. Leviathan, das bislang größte erschlossene Offshore-Gasfeld des Landes, wurde Ende 2019 in Betrieb genommen. Bislang konnte von dort kein Gas nach Europa exportiert werden, da Israel dafür die Türkei braucht – zwischen Ankara und Tel Aviv war die Stimmung aber recht angespannt. Das ändert sich langsam, denn beide Länder unterstützen Aserbaidschan im Krieg um Berg-Karabach und verfolgen in Syrien gemeinsame Interessen, die sich gegen den Machthaber Baschar al-Assad richten. Dies macht eine Idee, die für Jahre auf Eis lag, wieder realistisch: eine Pipeline von der Mittelmeerküste Israels in die Türkei oder der Export via LNG-Tankschiffen. Mit Botaş Dörtyol, einer schwimmende Speicher- und Regasifizierungsanlage vor der türkischen Südküste, gäbe es dafür bereits eine Anlandestation.

Als sich Ende April das Who is who der westlichen Energiekonzerne in Wien zur European Gas Conference traf, protestierten Tausende gegen den weiteren Ausbau von Gas-Infrastruktur, mit dem sich Gesellschaften inmitten der Klimakrise weiter von fossilen Energieträgern abhängig machen und mit dem nicht nur die Natur, sondern auch Menschen brutal ausgebeutet werden, wie neokoloniale Fracking-Projekte in Südamerika und Afrika zeigen. Die Proteste richteten sich aber auch gegen die Stärkung von Regimen, die mit fossilen Energieträgern Profite machen – wie die Türkei. Das Regime in Ankara kennt nämlich keine Hemmungen, wenn es darum geht, seine Lage in geopolitische Macht umzuwandeln. Das hatten schon seit vielen Jahren die Staudammprojekte an Euphrat und Tigris gezeigt, mit denen Millionen Menschen in den kurdischen Gebieten, in Syrien und im Irak zunehmend das Wasser abgedreht wird.

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