Das Referenzgenom wird diverser

Im humanen Pangenom werden genetische Variationen zwischen Bevölkerungen unterschiedlicher Regionen abgebildet

Der verschiedenfarbige Graph symbolisiert die Varianten im menschlichen Genom, die im Pangenom zusammengefasst sind.
Der verschiedenfarbige Graph symbolisiert die Varianten im menschlichen Genom, die im Pangenom zusammengefasst sind.

Vor über 20 Jahren, im Februar 2001, verkündete das internationale Humangenomprojekt die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Allerdings hatte der genetische Bauplan des Menschen damals noch erhebliche Lücken und so lässt sich rückblickend sagen, dass damals wohl nur 92 Prozent des Genoms tatsächlich entschlüsselt waren. Erst vor einem Jahr konnte das menschliche Genom vom Telomere-to-Telomere-Consortium unter Leitung der Genetikerin Karen Miga und des Bioinformatikers Adam Phillippy nahezu vollständig ausgelesen werden.

Was Miga und Kolleg*innen 2022 vervollständigt hatten, war zu 70 Prozent das Genom eines einzigen Mannes, das dem Humangenomprojekt zugrunde liegt, ergänzt um Erbinformationen von etwa 20 weiteren Personen. Als Referenzgenom für die gesamte Menschheit war die Aussagekraft daher begrenzt. »Mit dem bisherigen Referenzgenom können nicht alle genetischen Varianten gefunden werden, weil dieses Genom einfach auf zu wenigen Daten beruht«, erklärt Stefan Mundlos, Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité.

Die Technologien zur DNA-Sequenzierung haben sich in den vergangenen 20 Jahren stark verbessert. Regionen des menschlichen Genoms mit besonders vielen Wiederholungen konnten damals nicht richtig ausgelesen werden. Das lag daran, dass das Genom aus kurzen Sequenzen wieder zusammengesetzt werden musste, die Abschnitte mit vielen Wiederholungen aber nicht korrekt aneinander gefügt werden konnten. Mit den Ergebnissen von 2022 zeigte sich aber: Gerade in diesen Regionen gibt es eine sehr große Variationsbreite zwischen zwei Menschen.

Um die Diversität der Menschheit im Referenzgenom abzubilden, rief das US-amerikanische National Human Genome Research Institute das Humane Pangenome Reference Consortium (HPRI) ins Leben, das das Referenzgenom durch ein sogenanntes Pangenom ersetzen soll. »Ein ›Pangenom‹ ist die Gesamtheit der Genomsequenzen mehrerer Individuen, die die genetische Vielfalt der Art repräsentieren«, hieß es in der Vorstellung des Forschungsvorhabens im Fachjournal »Nature« vom April 2022.

Genauigkeit von 99 Prozent

Der nun veröffentlichte erste Entwurf eines Pangenoms, begleitet von mehreren Veröffentlichungen in »Nature« beruht auf der Sequenzierung des Erbguts von 47 Personen. Das menschliche Referenzgenom wurde damit um 119 Millionen Basenpaare erweitert. Mithilfe neuer Sequenziertechniken und Algorithmen werden nun 99 Prozent des menschlichen Genoms mit einer Genauigkeit von 99 Prozent dargestellt. Die Arbeiten sind jedoch nicht abgeschlossen und am Ende sollen die Erbgutsequenzen von 350 nicht miteinander verwandten Individuen aus aller Welt zusammengeführt werden. »Es ist ein wichtiger erster Schritt in der Demokratisierung des Genoms und der Teilhabe von Menschen nicht-europäischer Abstammung an den Errungenschaften der Genomforschung«, beurteilt André Reis, Direktor des Humangenetischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen das Vorhaben.

Die genetischen Variationen, die im Pangenom abgebildet werden, sollen die Bevölkerung verschiedener Regionen der Erde adäquater repräsentieren. Bereits das bisherige Referenzgenom sollte dazu beitragen, die DNA-Abschnitte, die mit erblichen Krankheiten assoziiert sind, besser identifizieren zu können. Ein diverseres Pangenom soll es einfacher machen, häufige Varianten und DNA-Abschnitte, die mit Krankheiten in Verbindung stehen, voneinander zu unterscheiden. Mit Hunderten sequenzierter Genome von hoher Qualität sei ein neuer Grundstein für die genetische und klinische Forschungsgemeinschaft und für eine gerechtere Gesundheitsversorgung in der Zukunft gelegt, erklärte Miga bei der Vorstellung des Pangenoms am Dienstag.

Genetische Risiken besser verstehen

Evan Eichler, am HPRI beteiligter Genetiker von der University of Washington, sieht in den neuen Ergebnissen beispielsweise die Möglichkeit, das genetische Risiko für einen erhöhten Lipoprotein(a)-Wert, der mit koronarer Herzkrankheit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen insbesondere bei der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA assoziiert ist, besser zu verstehen. Auch die genetische Disposition für Schizophrenie erhoffen die Wissenschaftler*innen des HPRI mit Hilfe des neuen Referenzgenoms genauer aufzuklären.

Allerdings bleiben Einschränkungen der genetischen Diagnostik weiter bestehen: Die Entstehung vieler Krankheiten werde nicht allein durch die genetische Information beeinflusst, »sondern ebenso durch Genregulation, Genexpression, Proteineigenschaften und ähnliches«, erläutert Michael Nothnagel, Leiter der Forschungsgruppe Statistische Genetik und Bioinformatik der Universität zu Köln, der nicht an dem Forschungsprojekt beteiligt war.

Rekonstruktion der Evolution

Das HPRI ist nicht die einzige Forschungsgruppe, die an einem Pangenom arbeitet. Beispielsweise sammelt auch das »Chinese Pangenome Consortium« Erbmaterial von verschiedenen Bevölkerungsgruppen, um ein humanes Pangenom für China zu erstellen. Auf Menschen beschränkt muss die Methode des Pangenoms derweil nicht bleiben. Im Gegenteil, die Idee stammt ursprünglich aus der Forschung am Erbgut von Bakterien. Eric Green, Direktor des National Human Genome Research Institute, kann sich vorstellen, den Entwurf des Pangenoms auch auf andere, dem Menschen nahe verwandte Arten anzuwenden, und so die Evolutionsgeschichte der Genome zu rekonstruieren.

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