Inklusion im Journalismus: »Die Zielgruppe ist sehr groß«

Nikolai Prodöhl und Lisa Kreutzer arbeiten beim Magazin »Andererseits« an inklusiven journalistischen Perspektiven

Magazin »Andererseits« – Inklusion im Journalismus: »Die Zielgruppe ist sehr groß«

Sie haben mit »Andererseits« in relativ kurzer Zeit viele Preise gewonnen. Haben Sie mit der Idee quasi offene Türen eingerannt?

Prodöhl: Wir hatten ziemlich schnell Erfolg. Wir haben gar nicht damit gerechnet, so viele Preise zu gewinnen.

Kreutzer: »andereseits« ist sehr schnell gewachsen für ein Medien-Startup. In den ersten Zusammenarbeiten mit Redaktionen haben wir noch viel mehr Widerstände gemerkt, zum Beispiel gegenüber Leichter und einfacher Sprache. Je größer wir geworden sind und je öfter Menschen gesehen haben, dass wir Leute erreichen und dass das sehr guter, cooler Journalismus ist, hat sich das geändert.

Prodöhl: Ja, und ich bin stolz, dass es funktioniert, dass Menschen mit und ohne Behinderung bei uns gemeinsam arbeiten, also Themen recherchieren, Interviews führen und Texte schreiben.

Interview

Nikolai Prodöhl arbeitet bei »andererseits« als Journalist. Für seine journalistische Arbeit wurde er unter anderem für den Deutschen Radio-Preis nominiert. Er arbeitete 15 Jahre in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Lisa Kreutzer ist Chefredakteurin bei »andererseits«. Sie leitet die Redaktion, begleitet journalistische Prozesse und Inhalte und ist für die Qualitätssicherung zuständig. »Andererseits« (andererseits.org) ist ein inklusives Medium, das von Journalist*innen mit und ohne Behinderung gemacht wird.

Wie haben Sie für das Projekt zusammengefunden?

Prodöhl: Das war in der Corona-Zeit. Das war am Anfang ein Ehrenamt von so fünf bis acht Leuten. Dann sind mehr Menschen dazugestoßen und wir haben entschieden, dass es ein Beruf sein soll.

Kreutzer: 2021 hat es als Projekt von freien Journalist*innen und Menschen mit Behinderungen, die Lust auf Journalismus haben, angefangen. 2022 haben wir »Andererseits« als Medienunternehmen gegründet,und seitdem arbeiten die Menschen eben bezahlt. Wir haben drei Ziele: faire Arbeit, Inklusion und Unabhängigkeit.

Welches Themenspektrum deckt »Andererseits« ab?

Kreutzer: Wir machen viel investigativen Journalismus. Wir decken auf, was im Bereich Inklusion falsch läuft. Wir haben aber auch viele persönliche Geschichten, weil wir Inklusion und Behinderung als politische Begriffe sehen. Behinderungen sind die Erfahrungen, die Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft machen.

Prodöhl: Wir sind unabhängig. Wir können schreiben, was wir denken und herausgefunden haben. Viele Medien schreiben zu wenig über das Thema Inklusion, weil da zu wenig Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten.

Kreutzer: Viele unserer Themen sehen wir, weil wir eben diese Perspektiven von Menschen mit Behinderungen in unserer Redaktion haben. Unsere erste große Doku war über »Licht ins Dunkel« in Österreich. Seit Jahrzehnten kritisieren Menschen mit Behinderungen diese Spendenaktion. Aber kein Medium hat groß darüber berichtet.

Worum geht es da genau?

Kreutzer: Im Dunkel sind sozusagen die Menschen mit Behinderung und die Spender*innen bringen das Licht. Es gibt zum Beispiel eine Szene, da singt DJ Ötzi und ein Kind mit Behinderung fährt mit dem Roller um ihn herum und die österreichischen Politiker*innen weinen. Aber sie machen weiterhin Gesetze, die Menschen mit Behinderungen immer schlechter stellen. Diese Doppelmoral haben wir aufgedeckt.

Prodöhl: Ja, und Firmen zahlen Geld, damit Menschen mit Behinderungen Unterstützung bekommen, aber sie stellen selbst kaum Menschen mit Behinderung ein. Sie kaufen sich davon frei.

Kreutzer: Bei solchen Aktionen wie »Licht ins Dunkel« wird dann zum Beispiel für einen passenden Rollstuhl gespendet. Dabei stehen Hilfsmittel Menschen mit Behinderung laut UN-Konvention über die Menschenrechte ohnehin zu.

Herr Prodöhl, welche Geschichte haben Sie zuletzt recherchiert?

Prodöhl: Wir haben aufgedeckt, wie Behindertenwerkstätten arbeiten, wie mit Behinderten Geld verdient wird und dass große Firmen dort produzieren lassen. Dafür müssen die Firmen dann weniger Ausgleichstaxe zahlen.

Gab es Reaktionen aus der Politik auf Ihre Recherchen?

Kreutzer: Die Doku über »Licht ins Dunkel« wurde in Österreich im Nationalrat besprochen. Unsere zweite Doku war über die Flut im Ahrtal und darüber, wie Menschen mit Behinderungen beim Katastrophenschutz vergessen wurden. Da haben wir Rückmeldungen bekommen, dass Sozialträger danach ihre Katastrophenschutz-Statuten angepasst haben.

Und Sie berichten in einfacher und Leichter Sprache.

Prodöhl: Wir haben ein Magazinheft in Leichter Sprache und es wird kontrolliert von Menschen mit Beeinträchtigungen, ob wir da alles gut verstehen. Wenn wir da nichts verstehen, dann muss es umgeschrieben werden. Die Texte, die in den Heften veröffentlicht werden, die werden extra umgeschrieben in Leichte Sprache.

Kreutzer: Unser Online-Journalismus ist zu großen Teilen in einfacher Sprache. Das ist so ungefähr B1-Niveau, wenn man eine Sprache neu lernen würde. Und für Leichte Sprache gibt es noch mal ausgebildete Übersetzer*innen.

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Welche Angebote gibt es in einfacher oder in Leichter Sprache bei anderen Medien?

Prodöhl: Ziemlich wenig. Es gibt die »Tagesschau« in Leichter Sprache, aber das ist eigentlich das einzige. Webseiten, Nachrichten, Radio, Magazine, Regionalzeitungen – da kommt überall selten Leichte und einfache Sprache vor, weil die Redaktionen sich damit nicht beschäftigen.

Kreutzer: Dabei ist jede dritte Person auf einfache und Leichte Sprache angewiesen, um komplexe Zusammenhänge wirklich verstehen zu können. Das heißt, die Zielgruppe ist sehr groß. Auch Menschen, die gerade Deutsch lernen, sind auf einfache und Leichte Sprache angewiesen oder Menschen mit Demenzerkrankungen. Eine sehr große Gruppe wird also von den Medien nicht erreicht, was letztlich auch ein Problem für die Demokratie ist.

Für Menschen mit Behinderungen ist es bestimmt auch schwer, im Journalismus Fuß zu fassen.

Prodöhl: Ich habe ziemlich viele Praktika gemacht und oft gesagt bekommen, dass ich keine Chance habe, als Journalist und Moderator zu arbeiten. Ich hab eine Sprachbeeinträchtigung und als Radiomoderator muss man sprechen können wie die Nachrichtensprecher. Und dann braucht man eine Ausbildung oder ein Studium. Ich bin aber auf eine Förderschule gegangen, da ist ein Abitur nicht vorgesehen. Deswegen würde ich sagen, es gibt kaum Chancen für Menschen mit Beeinträchtigung, im Journalismus Fuß zu fassen. Für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen ist es vielleicht noch besser, da ist dann die Barrierefreiheit das Thema.

Kreutzer: Wie soll denn der Journalismus die Welt abbilden, wie sie ist, wenn immer dieselben Menschen den Journalismus machen? Menschen mit oder ohne Behinderungen werden ganz früh voneinander getrennt, es gibt ganz wenig Berührungspunkte. Und dann gibt es noch Zugangshürden. Redaktionen müssten ganz aktiv sagen: Uns fehlen hier Perspektiven, wir müssen hier was ändern.

Prodöhl: Ja, und viele Menschen mit Behinderung können gar nicht im Journalismus arbeiten, weil sie in den Werkstätten landen.

Was haben Sie in der inklusiven Zusammenarbeit gelernt?

Kreutzer: Bei »Andererseits« versuchen wir, Räume zu schaffen, in denen alle mitmachen können mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen. Für so einen inklusiven Raum ist es gut, dass nicht nur Menschen mit Behinderung sagen müssen: Das und das brauche ich, zum Beispiel eine Agenda von einem Treffen in Leichter Sprache. Wenn jede Person sagt, was sie braucht, dann wird es ein bisschen normaler. Und so können richtig tolle Räume entstehen, wo auch Menschen ohne Behinderungen sich viel wohler fühlen und man sich gegenseitig unterstützt.

Prodöhl: Dann ist es nicht unangenehm zu fragen. In anderen Redaktionen wird wenig darüber gesprochen, wie man gut mitmachen und zusammenarbeiten kann. Da geht es um Leistung, da muss man schnell etwas abliefern.

Was sind Ihre Ziele für die Zukunft?

Prodöhl: Dass noch mehr Menschen mit Beeinträchtigung eine richtige Anstellung im Journalismus bekommen. Damit mehr Menschen mit Beeinträchtigungen recherchieren und schreiben, auch in anderen Medien.

Kreutzer: Ein Redakteur von uns hat mal gesagt, »Andererseits« soll größer werden als die »Kronen-Zeitung«, also die »Bild«-Zeitung Österreichs. Mein ganz großer Traum wäre schon, dass es irgendwann im Medienbereich ganz selbstverständlich ist, dass Menschen mit Behinderungen in allen Redaktionen mitarbeiten und dass man verständliche Informationen herausgibt. Ich will natürlich, dass »Andererseits« weiterhin besteht. Aber wenn es in 20 Jahren nicht mehr notwendig wäre, weil es selbstverständlich geworden ist, dass Redaktionen vielfältig sind, wäre das auch fein.

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