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Die große kollektive Illusion
Wie geht es dem »Treffpunkt Kino«? Die Probleme lauern im heimischen Wohnzimmer – eine Bestandsaufnahme
Am Dienstag beginnt in Cannes das wichtigste europäische Filmfestival. 19 Filme bewerben sich im Wettbewerb um die Goldene Palme, in verschiedenen Reihen werden bis zum 27. Mai mehrere hundert Filme gezeigt. Business as usual nach der Pandemie? Das Kino allgemein steckt nach wie vor in der Krise. Aber für welchen ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich ließe sich heute keinerlei Krise konstatieren?
Die Besucherzahlen gehen zumindest wieder deutlich nach oben, leider bei gleichzeitig steigenden Energiekosten, was für Lichtspielhäuser ein Problem darstellt. Gingen 2019 hierzulande noch knapp 120 Millionen Menschen ins Kino, waren es 2020 und 2021 jeweils nur etwa ein Drittel davon. 2022 erholte sich der Markt ein wenig und mit 78 Millionen verkauften Tickets verdoppelten sich die Besucherzahlen im Vergleich zum Vorjahr beinahe.
Doch nicht nur die während der Pandemie geschlossenen oder in ihrem Betrieb eingeschränkten Kinos, egal ob große Multiplexe oder kleine Programmkinos, sondern auch die zum Teil ausgefallenen Filmfestivals ließen den ganzen Filmbereich auch in den Feuilletons weniger sichtbar werden. Das zumindest ändert sich jetzt wieder. Doch durch die Angebote der immer breiter werdenden Streaming-Dienste sehen sich die Kinos großer Konkurrenz ausgesetzt. Daran ändert auch nichts, dass einige Streaming-Produktionen wie der mit vier Oscars prämierte deutsche Netflix-Film »Im Westen nichts Neues« erst im Kino starten und dann einige Wochen später im Stream zu sehen sind.
Früher warben die Lichtspielhäuser mit dem Slogan »Treffpunkt Kino«. Doch dieser Treffpunkt ist seit jeher starken Wandlungen ausgesetzt. Jede mediale Veränderung beeinflusst das Kinogeschäft. War es bis in die frühen 80er Jahre üblich, nicht nur neue Filme, sondern auch wichtige Hollywood-Schinken vergangener Jahre für ein paar Mark im Kino anzusehen, weil es nur drei Fernsehprogramme und vergleichsweise wenige Spielfilme zu sehen gab, änderte sich das mit dem Aufkommen des Privatfernsehens radikal. Video gab es vorher schon, es wurde abgelöst durch DVD und Blue Ray. Die sogenannten Videotheken verschwanden mit dem Streaming.
Das heimische Pantoffelkino bietet bei Weitem nicht die Magie eines Kinosaals mit der großen, beinahe das ganze Blickfeld ausfüllenden Leinwand, die die Illusion befördert, man befände sich in dem angeschauten Film – eine Illusion, die im Kinosaal kollektiv erlebt wird. Dazu die leicht bedröhnte, fast katerartige Stimmung, wenn das Licht langsam wieder angeht, sich die Besucher aus den Sesseln erheben und aus dem Saal zurück in die Realität wandern – egal ob durch eine Komödie grinsend angekickt, politisch agitiert oder vom Arthouse-Format intellektuell-kathartisch durchgespült.
Wobei der Unterschied zwischen Kino und dem heimischen Fernseher, der heutzutage zumeist ein Breitbildformat und einen deutlich größeren Bildschirm hat, nicht mehr mit dem vergangener Tage vergleichbar ist, als die alte Glotze im Wohnzimmer stand – es sei denn, Laptop oder Tablet müssen zum Filmeschauen herhalten. Sich zum Beispiel einen Cassavetes-Film wie »Woman under the Influence« nicht auf einer Leinwand anzuschauen, dürfte von Puristen fast schon als Frevel bezeichnet werden. Der Film mit seinem sozialkritischen und realistischen Charakter ist wegen der durchkomponierten, an opulente Gemälde erinnernden Bilder eben auch ein visuelles Kunstwerk und das kommt auf dem Fernseher oder einem anderen kleinen Bildschirm so gar nicht zur Geltung. Aber Leinwände gibt es mittlerweile eben nicht mehr nur im Kino. Die Kosten für Beamer sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten drastisch gesunken. Immer mehr Menschen verfügen über eine qualitativ zwar kaum mit der eines Kinosaals vergleichbare Ausstattung, die aber auch zuhause auf ganz anderem Niveau das »Kinoschauen« ermöglicht, als das früher einmal der Fall war.
Außerdem, und das ist für das Kino durchaus fatal, bieten viele Streaming-Anbieter wie Amazon vergleichsweise neue, erst kürzlich in die Kinos gekommene Filme als zusätzliche Angebote gegen Aufpreis, wie etwa den Fantasy-Streifen »Everything Everywhere All at Once«, der zum großen Abräumer der Oscars wurde und den sich Amazon-Abonnenten für drei Euro auf die heimische Leinwand beamen können. In den USA geht das sogar noch schneller, dort lassen sich fast alle neuen Kinofilme auch sehr bald nach dem Kinostart im Stream schauen. Eine immer mehr in den Privatbereich hineinreichende Arbeitswelt, die zu weniger verfügbarer Freizeit führt, leistet diesem Filmkonsum Vorschub. Und die abendliche, werktägliche Filmunterhaltung in Form einer knapp einstündigen Episode einer Serie, bei der nicht wenigen Zuschauern schon die Augen zufallen, sind mit den spätkapitalistischen Freizeitkonten einer durch Lohnarbeit ausgelaugten Bevölkerung kompatibler als ein sogenannter abendfüllender Spielfilm von 90 Minuten oder mehr.
Wobei die Streaming-Plattformen mit ihren Serien ein zeitgemäßes filmisches Erzählen bieten, das im Kino einfach nicht abspielbar ist. Eine Miniserie (sechs bis maximal zehn Teile) entspricht im Umfang ungefähr dem, was die öffentlich-rechtlichen Programme von ARD bis BBC in früheren Jahrzehnten als Vierteiler wie »Schatzinsel« oder »Seewolf« präsentierten, was damals feuilletonistisch gerne als »Straßenfeger« abgefeiert wurde. Für Literaturverfilmungen eignet sich diese in unkomplizierten Happen gereichte und dennoch komplexere Erzählform viel mehr als das Kino, wie etwa die BBC-HBO-Serienadaption von »His dark materials« (2019-2022) zeigt, die den kritisch-politischen Teil von Philipp Pullmanns Romantrilogie in seiner ganzen Komplexität abbildet, während die Hollywood-Verfilmung mit Nicole Kidman und Daniel Craig (2007) nur oberflächlich bleibt. Und Netflix und Co. können auch Arthouse, wie der Oscarnominierte Film »Bardo« (2022) oder die Don-Delillo-Adaption »Weißes Rauschen« (2022) zeigen. Die Streaming-Dienste warten auch mit überraschend politischen Inhalten auf, die im Mainstream-Kino nicht vorstellbar sind.
So geben die Macher des rassismuskritischen Black-Western- Opus »The harder they fall« (2021) an, dass kein Studio diesen Film habe machen wollen, weswegen sie zu Netflix gegangen seien, wo es eine beachtliche Bandbreite von Spielfilmen, Serien, aber auch Dokumentarfilmen zum Thema Rassismus gibt. Spike Lee blitzte mit seinem schwarzen Vietnam-Epos »Da 5 Bloods« (2020) bei unzähligen Studios ab und machte den Film schließlich ebenfalls bei Netflix. Das Kino ist also nicht automatisch Garant der Hochkultur, wie das im einen oder anderen Feuilleton gerne verhandelt wird. Da gilt es dann schon genauer hinzusehen und zwischen kleinen ambitionierten Programmkinos und großen kommerziellen Blockbuster-Abspielstationen zu unterscheiden.
Städte ohne Kinos sind aber eine grausige Vorstellung. Wer also weiter ins Kino gehen will, sollte das Lichtspielhaus seiner Wahl auch regelmäßig aufsuchen. Kino ist vor allem auch gelebte Alltagskultur und sie kann gar nicht früh genug praktisch gefördert werden. In einem von Berlins ältesten Kinos, dem 1907 gegründeten Moviemento in Kreuzberg, gibt es regelmäßig das sogenannte Spatzenkino, das am Vormittag von Kitagruppen besucht wird. Die Magie des Kinosaals lässt sich auch schon den Kleinsten vermitteln und die sind immer allesamt schwer begeistert.
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