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Prozess gegen Lina E.: Linke zwischen Wut und Lähmung
Unterstützer und Polizei bereiten sich auf Urteil im Prozess gegen angebliche Gruppe um Lina E. vor
Der Countdown läuft. An diesem Freitag steht die Uhr wahrscheinlich bei X+15. Als »Tag X« gilt in der linksautonomen Szene der Samstag nach dem Urteil im Dresdner Prozess gegen Lina E. und drei weitere Antifaschisten. Für diesen Tag wird bundesweit und darüber hinaus zu einer Demonstration nach Leipzig mobilisiert. Man wolle »Solidarität mit allen verfolgten Antifaschisten« beweisen und Staat, Justiz sowie Polizei zeigen, »dass wir auch angesichts von Repression stark sind«, heißt es in einem Aufruf. Die Institutionen des Staates, so der Vorwurf, seien »Beschützer, Unterstützer und Verteidiger der Faschisten«. Der Aufruf ist illustriert mit einem Polizisten in Schutzmontur, der über eine Straße voller Pflastersteine rennt.
Derzeit deutet alles darauf hin, dass Tag X auf das erste Juniwochenende fällt. Am vergangenen Mittwoch, dem immerhin schon 97. Verhandlungstag, wurde in dem seit September 2021 laufenden Prozess am Oberlandesgericht (OLG) Dresden zum zweiten Mal die Beweisaufnahme geschlossen. Sie war eigentlich schon im April beendet worden. Dann aber wurden während der Plädoyers der Verteidiger erneut massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Szeneaussteigers Johannes D. laut, der die vier Angeklagten als Kronzeuge massiv belastet und die These der Bundesanwaltschaft von einer linksextremen kriminellen Vereinigung gestützt hatte. Er habe, hieß es, in einem separaten Verfahren gegen ihn am Landgericht Meiningen ein abweichendes Bild von Kampfsporttrainings in Leipzig gezeichnet, bei denen Lina E. & Co nach Überzeugung der Anklage »Szenarien« für brutale Überfälle auf Nazis trainiert hätten.
Um den Widerspruch aufzuklären, wurde am Mittwoch ein Vertreter der Staatsanwaltschaft Gera als Zeuge gehört, der in Meiningen die Anklage vertrat. Er erklärte, D. habe auch dort davon gesprochen, dass »Überfälle auf Neonazis vorbereitet und trainiert« worden seien. Mit dieser Frage steht und fällt der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, die Angeklagten und weitere Beschuldigte hätten eine kriminelle Vereinigung nach Paragraf 129 Strafgesetzbuch gebildet. Wird das vom Gericht bejaht, drohen drakonische Strafen. Allein für Lina E., die seit November 2020 in Untersuchungshaft sitzt, verlangte die Anklage acht Jahre Gefängnis.
Nach der Aussage des Meininger Zeugen wurden die Plädoyers der Verteidiger fortgesetzt und dabei erneut schwere Vorwürfe gegen Bundesanwaltschaft und Gericht erhoben. Die Anklage habe ein »reines Hypothesenpapier« als Anklage vorgelegt, sagte der Dresdner Rechtsanwalt Oliver Nießing, die Kammer mit mit ihrer Prozessführung die Verteidiger zum bloßen »Feigenblatt« degradiert. Die Plädoyers dürften am Montag abgeschlossen werden. Danach braucht der Senat einige Tage Zeit, um das Urteil zu beraten und zu formulieren. Mit dessen Verkündung wäre also nach Pfingsten zu rechnen.
Gespannt wird erwartet, wie die Szene, in der Lina E. zur Symbolfigur geworden ist, auf den Richterspruch reagiert. Am Tag des Urteils wird das Gerichtsgebäude noch mehr als bisher einer Festung gleichen. Für den Tag X in Leipzig rüstet sich die Polizei zum Großeinsatz. Man erwarte ein »dynamisches Versammlungsgeschehen« mit einer Teilnehmerzahl im mittleren vierstelligen Bereich, darunter eine »hohe Zahl« gewaltbereiter Personen, erklärte eine Sprecherin auf Anfrage des »nd«. Die Polizei schätze den eigenen Kräftebedarf auf mehr als 2000 Beamte und will gegebenenfalls Unterstützung aus anderen Ländern und beim Bund anfordern.
Für Kopfzerbrechen sorgen bei Behörden Aufrufe aus der militanten linken Szene, die fordern, für jedes verhängte Jahr Haft einen Sachschaden von einer Million Euro anzurichten. Die Strafforderung der Anklage summiert sich für die vier Angeklagten auf 18 Jahre. Brandanschläge und andere Übergriffe etwa auf Polizei- und Gerichtsgebäude oder Autos von Behörden und Unternehmen gibt es in Leipzig seit Jahren. Die Polizeisprecherin erklärte, man werde am Tag der Demonstration »Raum- und Objektschutzmaßnahmen durchführen«, habe »externe Behörden und Einrichtungen sensibilisiert« und dränge diese, eigene Vorkehrungen zu treffen.
Schreckensszenarien werden nicht nur für den Tag X gezeichnet, sondern weit darüber hinaus. Das Bundeskriminalamt (BKA) sehe bei Drohungen aus der militanten linken Szene Parallelen zur Rote Armee Fraktion (RAF) und fürchte, Teile der Szene könnten »wieder in den Terrorismus abdriften«, berichtete unlängst das Magazin »Spiegel«. Verwiesen wird nicht nur auf die Brutalität und Professionalität der Überfälle auf Nazis, wie sie zuletzt in Budapest während des Neonazi-Festivals »Tag der Ehre« auch mit Beteiligung militanter Linker aus Deutschland verübt wurden, sondern auch auf den Umstand, dass etliche Szenemitglieder inzwischen im Untergrund leben, darunter als zentrale Figur mit Johann G. der Lebensgefährte von Lina E. Nach dem Urteil drohe eine weitere Radikalisierung. Vergleichbares, zitiert der »Spiegel« das BKA, sei »letztmalig zu Zeiten der RAF feststellbar« gewesen.
Während freilich Behörden das Bild eines neuen linken Terrorismus zeichnen, ergibt sich aus Stellungnahmen der Szene selbst ein ganz anderes Stimmungsbild. »Die Repression wirkt«, heißt es etwa in einem mehrseitigen Papier von »Kappa«, einer kommunistischen Gruppe in Leipzig. Darin wird nicht nur auf den Dresdner Prozess verwiesen, sondern auch auf zahllose Hausdurchsuchungen, gehäufte Observationen, das Abhören von Telefonen und Strukturermittlungen nach Paragraf 129, die das ermöglichen. All das sei in Leipzig »Normalität geworden«. Die Folge seien Wut, Lähmung, Ohnmacht, Passivität und Angst. Viele Aktivisten hätten sich aus Furcht vor Repressalien aus der politischen Arbeit zurückgezogen. Wörtlich ist von »unserer beschissenen Lage« die Rede.
Als Konsequenz wird eine stärkere Solidarisierung verlangt, aber auch ein Nachdenken über Aktionsformen, konkret die »Sinnhaftigkeit mancher militanten Praxis«, wenn diese im Zweifel nur stärkere Repression bewirke. Militante Aktionen dürften »nicht zum Selbstzweck« verkommen. Sie unterschieden sich dann nicht von einem »Gewaltfetisch«, wie ihn andere in Fußballstadien oder bei Dorffesten auslebten.
Auch in einem gemeinsamen Aufruf des Ermittlungsausschusses Dresden und der Roten Hilfe Leipzig wird die Frage aufgeworfen, ob »Gewalt im Kampf gegen Nazis mehr Schaden als Nutzen hervorbringt«. Gleichwohl sei Solidarität mit Menschen nötig, die sich zu diesem Mittel entschlossen hätten. Eine Verurteilung von Lina E. & Co hätte, heißt es weiter, »weitreichende Konsequenzen für uns alle, einzeln und als Bewegung«. Es bestehe die Gefahr, dass sich viele Aktive »aus der politischen Praxis zurückziehen oder in die völlige Klandestinität abtauchen«, was auf eine Spaltung der Szene hinauslaufe. Die Demonstration am Tag X sei ein Zeichen, dass man stattdessen »Zusammenhalt üben und einander stärken« wolle. »Wir fahren dorthin«, heißt es.
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