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Filme mit Sandra Hüller in Cannes: Am Anfang steht Musik
Sandra Hüller ist im diesjährigen Cannes-Wettbewerb gleich zweimal zu sehen: Als Nazigattin und als komplexe Schriftstellerin
Minutenlang ist nur ein aschgraues Bild auf der Leinwand zu sehen – begleitet von einer Mischung aus musikalischen Klängen und unerkennbaren Geräuschen. Man vergisst nach einer Weile, dass der Film schon begonnen hat und ist in seinen Gedanken, sucht nach einer Erklärung, einem Zusammenhang. Denn man weiß bereits, worum es im Film »The Zone of Interest« des britischen Regisseurs Jonathan Glazer geht, der gerade auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte. Die Information zu dem in Polen gedrehten, deutschsprachigen Film, der keine deutsche Produktion ist, lautete, dass der Roman »Interessengebiet« von Martin Amis über den Lagerkommandanten des KZ Auschwitz, Rudolf Höß, und dessen Frau als Grundlage der Geschichte diente. Man ist noch in den Klängen verloren, als plötzlich eine idyllische Landschaftsszene folgt. Eine Familie ist am See. Die Kinder spielen, die Mädchen haben jeweils zwei blonde Zöpfchen, die Jungs tragen die Haare an den Seiten kurzgeschoren. Irgendwann fahren sie alle nach Hause. Ihr Haus liegt an der Mauer des Konzentrationslagers Auschwitz.
Hier wohnt der Nazi Rudolf Höß (gespielt von Christian Friedel) mit seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller) und seinen fünf Kindern – eins davon ist ein Baby. Auf dem Grundstück haben sie einen Swimmingpool, einen Gemüsegarten und ein Gewächshaus. Hedwig nennt das Anwesen »ein kleines Paradies«. Rudolf nennt Hedwig »die Königin von Auschwitz«. Und während die Familie im Garten feiert, sind Rauchwolken im Hintergrund zu sehen.
Es wird nicht explizit gezeigt, was im Lager geschieht, doch die Schüsse, die Menschenschreie, das Hundegebell und das Nazibrüllen bleiben ein Bestandteil der Filmmusik (vom Komponisten Mica Levi). Im Kontrast dazu nimmt der banale Alltag der Familie Höß einen großen Raum im Film ein: Hedwig, die froh ist, aus der Stadt weggezogen zu sein, beschäftigt sich mit ihrem Garten. Rudolf sorgt dafür, dass es in der Gegend für die Beschädigung der Fliederbüsche eine Strafe gibt. Er liest abends seinen Kindern »Hänsel und Gretel« vor. Und der kleine Sohn spielt vor sich hin und summt dabei die Melodie des Brausens des Krematoriums mit. Es sind solche Bilder, die bei »The Zone of Interest« hervorzuheben sind. So ein Film braucht tatsächlich solch eine eingangs beschriebene graue Anfangsszene, die, wie Jonathan Glazer in der Pressekonferenz zum Film erklärte, als eine Art Vorbereitungsraum dienen solle, um in diese Geschichte einzutreten. Zu ihrer Rolle sagte Sandra Hüller wiederum, dass »man weiß, dass man das eigentlich nicht richtig machen kann. Heißt wiederum, man kann auch eigentlich gar nicht versuchen, es richtig zu machen«.
Ganz im Gegensatz zu dieser Geschichte spielt Hüller im französischen Gerichtsdrama »Anatomy of a Fall« eine deutsche Autorin namens Sandra, die mit ihrem Mann und dem gemeinsamen elfjährigen, nach einem Unfall sehbehinderten Sohn in den französischen Alpen lebt. Auch bei der Anfangsszene dieses Films spielt die Musik eine zentrale Rolle: Sandra ist gerade dabei, in ihrem Chalet einer Journalistin ein Interview zu geben. Im Hintergrund läuft laute Musik. Die Journalistin nimmt das Gespräch auf, doch es wird schwierig, denn die Musik wird lauter. Sandra bleibt gelassen, lacht und sagt, dass sie das Gespräch doch woanders hätten führen sollen. Nun scheint die Musik in den Loop-Modus zu gehen und ist dabei noch lauter. Das Interview wird letztendlich unterbrochen und auf einen anderen Tag verschoben. Die Journalistin fährt weg, der Sohn geht mit dem Hund spazieren. Wenn er zurückkommt, liegt der Vater tot im Schnee vor der Haustür. Die Musik spielt immer noch.
Die französische Regisseurin Justine Triet, die schon 2019 für ihren Film »Sibyl« mit Sandra Hüller gearbeitet hat, engagierte sie dieses Mal für die Hauptrolle. Genauer: Die Geschichte sei für Hüller geschrieben, so Arthur Harari und Justine Triet, die zusammen das Drehbuch verfasst haben. Die Autorin Sandra wird als einzige Person, die im Chalet war, des Mordes an ihrem Ehemann verdächtigt. Danach spielt der Film zum großen Teil im Gericht – und dabei ist keine der 151 Minuten langweilig. Die schauspielerischen Leistungen sind zwar generell stark, besonders von dem Nachwuchsschauspieler Milo Machado Graner, der den Sohn spielt. Aber es ist eben Sandra Hüller, die den Film trägt. Die deutsche Schauspielerin, die schon 2016 für ihre Rolle in Maren Ades Drama »Toni Erdmann« eine Palme verdient gehabt hätte, gibt nun die komplexe Figur der Sandra in »Anatomy of a Fall« so überzeugend, dass eine Auszeichnung dafür vorstellbar ist.
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