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Marxistische Arbeitswoche: Linke Wiederholungszwänge
Die Zweite Marxistische Arbeitswoche rief in Frankfurt zur Bearbeitung der »Unhaltbaren Zustände« auf. Kritik und Praxis fielen auch hier auseinander
Vor 100 Jahren traf sich im thüringischen Geraberg eine Gruppe von linkskommunistischen Intellektuellen. Angesichts der zumindest in Westeuropa gescheiterten proletarischen Revolution und der historischen Krise des Marxismus machten sie sich an die Arbeit: Wie bearbeitet man das gegenwärtige Krisenproblem, wie müsste man und was sind organisatorische Konsequenzen daraus? Die Erste Marxistische Arbeitswoche ging in die Geschichte ein als Geburtsstunde des sogenannten Westlichen Marxismus und als Gründungsimpuls des im selben Jahr entstandenen Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) – also als Mythos. Über die Inhalte des damaligen Treffens, geschweige denn dessen Wirkung, ist nämlich so gut wie nichts bekannt.
Ein Jahrhundert später richtete besagtes Institut nun vom 26. bis zum 29. Mai 2023 die Zweite Marxistische Arbeitswoche (MAW) aus. Unter dem Titel »Unhaltbare Zustände« galt es erneut, einen umfassenden Krisenbefund marxistisch zu bearbeiten. Für sage und schreibe 44 Workshops, die zudem von einem breiten Rahmenprogramm begleitet wurden, hatten sich insgesamt knapp 900 Teilnehmende angemeldet. Über den Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Buchvorstellungen, Lesungen und Arbeitsgruppen schwebte notwendigerweise die Frage, was eine solche Veranstaltung eigentlich zu leisten habe und was sie mehr sein will als nur ein Event zum Gedenken.
Was bedeutet Marxismus (heute)?
»Sie ist nicht marxistisch, es wird nicht gearbeitet und es ist auch keine Woche«, fasste der Institutsdirektor Stephan Lessenich zur Begrüßung die Kritik zusammen, die an der MAW im Vorfeld geäußert wurde. Die Arbeitswoche war geplant als jener Teil der programmatischen Neuausrichtung des IfS im Zuge des 100-jährigen Bestehens, der gewissermaßen von unten stattfinden sollte. Unterschiedliche und durchaus konfligierende politische Gruppen waren an der Ausgestaltung beteiligt und die Arbeitswoche fand nicht an der Universität, sondern in den Räumen des Instituts und im vom AStA selbstverwalteten Studierendenhaus statt, das 1973 von einer US-amerikanischen Stiftung zur Demokratisierung der Studierendenschaft geschenkt worden war. Böse Zungen sprachen von der Veranstaltung daher auch als »Kindergarten«.
Lessenich bekannte, man habe sich mit der MAW »zwischen viele Stühle gesetzt«. Gemeint waren etwa die extremismusideologische Häme der FAZ, wer solche linken Veranstaltungen geduldet wissen wolle, müsse auch rassistische Entgleisungen von Boris Palmer hinnehmen, sowie Vorwürfe, dass Lessenich ein »Erbschleicherinstitut für angewandtes Ressentiment« leite und eine stinknormale akademische Konferenz ausrichte. Dass es Gemecker und Rangelei im Zuge eines solch traditions- und prestigeträchtigen Events gibt, kann eigentlich niemanden überraschen – ebenso der Umstand, dass der Aufruf zur Krisenbearbeitung unter dem gemeinsamen Banner marxistischer Theorie wenig Einigkeit erzeugt.
Denn bereits zur Auftaktdiskussion am Freitagabend unter dem Titel »Was bedeutet Marxismus heute?« wurde die Frage umgedeutet, was denn Marxismus überhaupt bedeuten solle. Nachdem Lessenich die Podiumsgäste Florian Butollo, Altaira Caldarella und Matthias Spekker nach der Bedeutung gefragt hatte, die Marx in ihrem Leben habe, wurde schnell deutlich, dass Marxismus und materialistische Gesellschaftstheorie eben nicht gleichbedeutend sind. Zwar gehörten Gesellschaftskritik, die aufs Ganze zielt, und Emanzipation zusammen, deren Verhältnis ist aber – seit mehr als 100 Jahren – genau die Krux.
Butollo etwa schien für sein Veränderungsversprechen alles Recht zu sein, er pflege einen »kreativen Umgang mit Theorie« und nehme sich von Marx, was ihm zur Kapitalismuskritik passend erscheine. Diese könne schließlich genauso gut aus dem Alltagsverstand entstehen, »so schwer ist die Vermittlung nicht«. Spekker hielt dem eine theoretische Strenge entgegen. Nicht jede Bewegung sei per se emanzipatorisch, der Nationalsozialismus oder Stalinismus etwa seien katastrophische Gesellschaftsveränderungen gewesen und das lasse auch einen Marxismus nicht unbeschadet. »Marxismus ist eine Weltanschauung«, betonte Spekker, an der festzuhalten in den Bereich der Ideologie und nicht der Erkenntnis falle.
»Matthias, findest du, wir müssen aufgeben?«, fragte ihn Caldarella auf diesen Einwand hin. »Nö«, aber eine Kritik der Gesellschaft dürfe sich keinem »fetischisierten Krisenbewusstsein« hingeben, als warte die Revolution nur auf den günstigen Moment. Das Kapital habe seine Krisen stets durch Barbarei gelöst, das müsste man immer mitdenken. »Diesen Quietismus kann man sich nur leisten, wenn das eigene Leben nicht bedroht ist«, schob Caldarella nach. Damit lagen die traditionellen Konfliktlinien zwischen Theorie und Praxis wieder auf dem Tisch.
Kein Pfingstwunder
Aufklärung ist Luxus – vielleicht der einzige, wohlgemerkt, den man nicht einfach auf eine Zeit nach der Revolution vertagen kann. In der Not wirkt dann jeder Einwand schon wie ein Aufgeben. Dass dieses Verhältnis aber selbst ein gesellschaftliches Problem ist, das aufgeklärt werden muss, darauf wies auch Christian Voller in seinem Einführungsvortrag zu »Die marxistische Arbeitswoche 1923 im Kontext ihrer Zeit« hin. Voller hatte jüngst eine Studie zur Frühgeschichte der Kritischen Theorie vorgelegt und rekonstruierte den Kontext der Arbeitswoche als »linkskommunistischen Bolschewismus«, in dem eine Revolution noch greifbar erschien und Marxismus eben bedeutete, »was Lenin sagt«. »Das ist keine gute Nachricht«, meinte Voller in Bezug darauf, dass sich nun ungebrochen und unproblematisch auf »den« Marxismus berufen werde. Die Kritische Theorie ging jedenfalls aus der Absage an den Marxismus als Weltanschauung hervor und könne entsprechend nicht einfach in den Dienst genommen werden, um heute wieder zur Praxis aufzurufen. Es würde kein »Pfingstwunder« geben, »bei dem der Geist der Kritischen Theorie in die leblosen Körper der Letzten Generation einfährt«.
Der Widerspruch zwischen der als drängend empfundenen Notwendigkeit verändernder Praxis und dem theoretischen Einwand, dass diese verstellt bleibt, ist also seit mehr als 100 Jahren ein Problem kritischer Gesellschaftstheorie. Diese Kontinuität meinte auch die Professorin für theoretische Psychoanalyse Christine Kirchhoff, die in ihrem Vortrag zu den »›Behandlungsarten‹ in der Krise« die Psychoanalyse als Mittel der Reflexion auf dieses Verhältnis vorstellte. Sie entschuldigte sich für ihre wütende Vortragsankündigung aufgrund des »unerfreulichen Anlasses, dass nach 100 Jahren so wenig passiert ist«. Nicht nur die Gesamtscheiße ist eben relativ gleich geblieben, sondern auch die Übersprungshandlungen einer Linken in Jetzt-oder-Nie-Stimmung. Gleichzeitig gilt: »Die Behandlung durch die Kritische Theorie dauert ja nun schon lange, der Erfolg ist mäßig«, gestand Kirchhoff ein.
Blockadeaktion und Blockadehaltung
Zuspitzung erfuhr die Theorie-Praxis-Problematik am dritten Arbeitstag. Der Vortrag des Politologen und Schriftstellers Raul Zelik über »Grundzüge eines ökologischen Marxismus« wurde kurzerhand auf eine Kreuzung an der Bockenheimer Warte verlegt, als symbolische Straßenblockade in Solidarität mit dem Aktivismus der Letzten Generation. Zelik beschwor den Weltuntergang und machte unzählige Referenzen von Marx über feministische Theorie bis zum gegenwärtigen Ökomarxismus. Die ökologische Krise müsse als gesellschaftliches Produkt des Kapitalismus begriffen und dabei »weniger von der Menschheit als von diesen Klassenverhältnissen« gesprochen werden. Seine Notstandshaltung zur Theorie erzeugte den Eindruck, die notwendige Erkenntnis des Gesamtzusammenhangs sei mit dem Hinweis auf Marx und Kapitalismus eben schon geleistet. Entsprechend sah Zelik die Aufgabe darin, die »Theorie zu popularisieren«. Die Erkenntnisse seien da und nun müsse man sie nur noch in die Köpfe bekommen.
Dass kritische Gesellschaftstheorie nicht einfach nur propagiert werden müsse, dafür stand im direkten Anschluss Thomas Ebermann. Der »Politiker ohne Karriere, Intellektuelle ohne Abitur«, wie ihn Georg Fülberth einmal charakterisierte, sprach zur »Kritik der Bedürfnisse«. Er verteidigte ein revolutionäres Begehren, aber in dessen Sinne könne man es sich mit der Kritik nicht leicht machen. Die kritische Negation sei nicht »aus Bequemlichkeit« geboten, »sondern weil die Potentiale, die es realhistorisch gab, nicht da sind«. Die Kreuzungsblockade sei entsprechend Ausdruck des »schlechten Gewissens der Intellektuellen, dass sie schon die ein oder andere Demo ausgelassen haben« und nun mit der Autorität auftrumpften, Marx habe »das alles schon gewusst. Nein, hat er nicht«. Und konnte er im Übrigen auch gar nicht wissen: Kein Autoritätsargument entlastet von den Mühen der Kritik, selbst angesichts bisher unbekannter Katastrophenzustände.
Blinde Stellen
Am letzten Tag wurden diese abstrakten Auseinandersetzungen schließlich noch einmal greifbarer am Gegenstand verhandelt. Peinlicherweise war die Diskussion zum materialistischen Feminismus die einzige Veranstaltung, die Rechenschaft über ihren Gegenstand abgeben musste. »Was ist materialistischer Feminismus?« diskutierten Barbara Umrath und Lisa Yashodhara Haller mit Christina Engelmann, so als müsste man das heute erst noch jemandem erklären. Immerhin ist die feministische Bearbeitung der Leerstellen von Marx bis zur Kritischen Theorie keine orchideenhafte Konkurrenzströmung, sondern die produktivste »marxistische Arbeit« der letzten Jahr(zehnt)e.
Andersherum zeigte die Podiumsdiskussion mit der Antisemitismusforscherin Christine Achinger und dem Professor für Sozialpsychologie Oliver Decker, dass Antisemitismus die ganz konkrete Leerstelle aktueller kritischer Gesellschaftstheorien ist. Als Beispiel diente Nancy Frasers neues Buch zum »Allesfresser«-Kapitalismus, das den Anspruch erhebe, das ganze System zu begreifen und dabei kein Wort zum Antisemitismus verliere. Der Anstieg des Antisemitismus in Krisenzeiten liege oft quer zur ökonomischen oder rassismuskritischen Analyse und komme vielleicht auch deshalb in aktuellen Analysen, die vermeintlich auf das Ganze zielen, nicht vor.
Zum Abschluss diskutierten der Wertkritiker Julian Bierwirth mit der Klassentheoretikerin Lena Reichardt die Rolle von Klasse; beide zeigten auf verschiedene Weise, dass dem Begriff notorisch zu viel zugemutet wird: Er soll zugleich die Struktur der Gesellschaft erklären und zugleich die progressive Bewegung verbürgen. »Ich glaube, wir kommen nicht zusammen«, endete Bierwirth.
Ehrlicherweise hätte niemand Einigkeit erwarten können, erst recht nicht von der Marxistischen Arbeitswoche im Ganzen. Viel der Erschöpfung aus dieser gemeinsamen Arbeit dürfte dem Eindruck der Wiederholung geschuldet sein. Es sind alles Debatten, die schon lange geführt sind, die Positionen sind überraschend klar und fallen nach der Aussprache wieder in ihre Lager zurück. Es gibt keine produktive Auflösung des Widerspruchs zwischen den Appellen, die unhaltbaren Zustände würden zur Praxis drängen und den Warnungen, dass dieselben Zustände keinerlei Halt für eine solche Praxis böten. Das Anbieten von Lösungen war aber auch nicht der Anspruch der MAW. Vielmehr ist es ein Verdienst und ein Gewinn der Veranstaltung, dass sich so viele Teilnehmende ernsthaft dem geteilten Problem gestellt haben, dass wir es mit Zuständen zu tun haben, die systematisch diese Widersprüche produzieren. Sich das vor Augen zu führen, ist dann schon Arbeit am Gegenstand.
Der Autor war selbst Teilnehmer der MAW und leitete den Workshop »Totalität. Bedingung und Problem einer kritischen Theorie der Gesellschaft«.
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