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EU-Asylpolitik: Die Verrechtlichung von Unrecht
Franziska Grillmeier hat eine erschütternde Anklage gegen die EU-Asylpolitik verfasst
Im heißen Sommer verharren Flüchtlinge ungeschützt in der Gluthitze, im Winter in Schlamm und Kälte und Unterernährung. Hygiene? Mangelhaft. Eine Dusche für mehr als hundert Geflüchtete. Medizinische Versorgung? Mangelhaft. Menschenrechte? Wertegeleitete humanistische Grundsätze? Nicht vorhanden an den Grenzen, im Süden Europas. »Schande Europas!«, sagen Kritiker. Das Lager Moria auf Lesbos existierte seit 2015, im März 2020 hausten dort 20 000 Gestrandete unter katastrophalen Zuständen.
Es geht um Abschreckung. Und was für eine Geisteshaltung in den Köpfen politischer Funktionsträger steckt, beweist der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis im Februar 2021 in einer Pressemitteilung: »Jemand, der absichtlich sein Zelt anzündet und damit Leben in Gefahr bringt, [...] muss natürlicherweise zum Gegenstand von Ermittlungen durch Polizei und Gerichte werden. Ich glaube, wenn jemand sich und andere absichtlich verbrennen will, ist das nicht ganz normal.«
Die 27-Jährige Maleka Mahmoodi aus Afghanistan, im achten Monat schwanger, sah für sich keinen Ausweg mehr, wollte nicht mehr leben, zündete sich an. Schwer verletzt wurde sie gerettet. Noch im Krankenhausbett, einen Tag später, klagt die Staatsanwaltschaft sie wegen Brandstiftung an. »Was wir an diesem Verfahren sehen können«, erläutert eine Anwältin, »ist die systematische Kriminalisierung von Geflüchteten, die genutzt wird, um Menschen an der Grenze abzuschrecken.« Franziska Grillmeier, die Reporterin, fügt hinzu: »Für die Behörden sei das gerade ein großes Experiment. Es gehe darum, herauszufinden, wie weit sie mit ihrer Abschreckungstaktik gehen können, ohne dass sich in Europa jemand beschwert.«
Griechenland erhält viel Geld für diese Form der Abschreckung. Ursula von der Leyen, die konservative Parteifreundin des griechischen Regierungschefs Kyriakos Mitsotakis und Präsidentin der Europäischen Kommission, erklärte bei ihrem Besuch in Athen im März 2020 Griechenland zum »Schutzschild Europas«. Dafür erhält das Land 700 Millionen Euro, »Migrationsmanagement«, nennt sich das.
Franziska Grillmeier zog 2018 auf die griechische Insel Lesbos, um aus nächster Nähe über die Zustände in den Flüchtlingslagern zu berichten. Ihre Reportagen sind verstörend und empörend zugleich. Beklemmende, mitunter schwer erträgliche Reportagen vom Leid der Flüchtlinge sowie der Willkür und Brutalität staatlicher Maßnahmen. Die Journalistin beschreibt, urteilt weniger. Sie teilt mit, was sie sieht, und sie lässt Flüchtlinge zu Wort kommen, gibt ihnen eine Stimme. »Du stehst morgens in einem Zelt auf, an dem die Scheiße entlangläuft«, erzählt eine Frau, »dann wartest du stundenlang in einer Schlange, um abgepackte Croissants und eine Flasche Wasser zu bekommen, und hast niemanden, der dir Auskunft darüber gibt, wann das alles aufhören soll.«
Franziska Grillmeier wird in ihrer Arbeit von Polizisten und Regierungsvertretern behindert, was sie allerdings nur am Rande bemerkt. Wichtiger sind ihr die Stimmen der Ohnmächtigen aus aller Welt. »Wenn wir schlafen, brennt es«, sagt ein Junge, »wenn wir wach sind, gibt es Krieg.« Zu den Traumata auf den Fluchtrouten kommen neue durch die Drangsalierungen und Repressalien staatlicher Organe hinzu sowie Hoffnungslosigkeit, die Ungewissheit.
Die Autorin gibt einen Überblick über die Flüchtlingsbewegungen; sie besichtigt ein Krankenhaus und registriert dort die Überforderung und fehlende Ausstattung; sie spricht mit Anwälten, Menschenrechtlern, Seenothelfern; sie schaut sich auf der internationalen Verteidigungsmesse DEFEA um, die erstmals in Griechenland stattfand, und sie ermittelt die »Verbindung zwischen der Sicherheitsindustrie und dem europäischen Migrationsmanagement«.
In den Jahren 2017 bis 2022 hat die Journalistin für alle großen deutschen Zeitungen berichtet. Diese Texte sind die Grundlage des Buches, redlicherweise werden die Erstveröffentlichungen im Anhang angegeben. In ihren Reportagen ist vom Abbau der Demokratie in Griechenland zu lesen, von einem Freund-Feind-Klima, in dem Kritik an unerträglichen Zuständen umgehend mit dem Verdacht des Vaterlandsverrats überzogen wird – von einer Justiz, die Opfer zu Tätern macht und selbst Seenotretter verfolgt. Sowie von »Schattenmännern«, die – maskiert – Flüchtlinge wieder ins Meer treiben und sie dort ihrem Schicksal überlassen. Ungeklärt ist bis heute, wer sich unter den Masken verbirgt und wer Flüchtlinge in Autos ohne Kennzeichen aufgreift und wegschafft. Sind das Söldner? Ist das eine Privatarmee? Bürgerwehr? Mafia? Man weiß es bis heute nicht genau. Ihre Aufgabe aber ist klar und auch belegt: Pushback! Zurücktreiben ins Meer, eine »Verrechtlichung des Unrechts«, schreibt Grillmeier.
»Die Insel«, ist das Buch getitelt, doch es finden sich hier nicht nur Reportagen von Lesbos, sondern auch von Samos und Leros, nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine auch von der ungarischen, der kroatischen oder der polnisch-belarussischen Grenze. Doch im Hauptteil wird von den Zuständen auf Lesbos berichtet. Nach verschiedenen Bränden ist das Lager in Moria im September 2020 vollständig abgebrannt. Neue, befestigte, überwachte Areale werden errichtet. In einem Pressetross besichtigt Franziska Grillmeier das neue Lager Mavrovouni. Weitere Millionen Euro aus Europa sind geflossen, um modernste Überwachungstechnik anzuschaffen, Sensoren, Bewegungsmelder, Drehkreuze, Fingerabdruckleser, Drohnen, neueste Sicherheitstechnologie. Ein spezieller Name ist für diese »Errungenschaft«, die die Journalistin auch auf Samos besichtigt, gefunden: »Closed-Controlled Access Centre«. Franziska Grillmeier vermutet, man wolle offenbar »den Eindruck vermeiden, es handele sich um Internierungslager.
«Die Insel», ist das Buch getitelt, doch es finden sich hier nicht nur Reportagen von Lesbos, sondern auch von Samos und Leros, nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine auch von der ungarischen, der kroatischen oder der polnisch-belarussischen Grenze. Doch im Hauptteil wird von den Zuständen auf Lesbos berichtet. Nach verschiedenen Bränden, ist das Lager in Moria im September 2020 vollständig abgebrannt. Neue, befestigte, überwachte Areale werden errichtet. In einem Pressetross besichtigt Franziska Grillmeier das neue Lager Mavrovouni. Weitere Millionen Euro aus Europa sind geflossen, um modernste Überwachungstechnik anzuschaffen, Sensoren, Bewegungsmelder, Drehkreuze, Fingerabdruckleser, Drohnen, neueste Sicherheitstechnologie. Ein spezieller Name ist für diese «Errungenschaft», die die Journalistin auch auf Samos besichtigt, gefunden: «Closed-Controlled Access Centre». Franziska Grillmeier vermutet, man wolle offenbar «den Eindruck vermeiden, es handele sich um Internierungslager». Doch genau um solche handele es sich: «Geschlossen. Kontrolliert Der Klang einer Orwell-Dystopie.»
Tragisch ist auch der Stimmungsumschwung in der griechischen Bevölkerung. 2016 sind die Bewohner von Lesbos noch für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden, weil sie den Flüchtlingen spontan Hilfe und Solidarität entgegengebracht haben. Heute, im überforderten Zustand des Landes, werden Flüchtlinge häufig als lästig und störend angesehen. Rassismus nimmt zu, Ausländerfeindlichkeit wird geschürt, die Demokratie zunehmend brüchig. Und die bange Frage lautet: Ob Europa tatsächlich zuschauen will, wie Griechenland allmählich autoritär regiert wird und in einen Zustand wie Ungarn oder Polen zurückfällt.
Franziska Grillmeier: Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas.
C. H. Beck, 220 S., geb., 24 €.
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