- Kultur
- Film »Divertimento: Ein Orchester für alle«
Eine Probe ist keine Modenschau
Der Film »Divertimento« erzählt von zwei in der Banlieue geborenen Schwestern, die sich in der elitären Welt der klassischen Musik durchsetzen
Lange war Dirigieren reine Männersache. Auch heute ist die Quote der Berufsdirigentinnen mit weltweit sechs Prozent erschreckend niedrig. Eine der wenigen professionellen Dirigentinnen ist die 1978 geborene Französin Zahia Ziouani. Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar, die sich seit 2005 für feministische Filmproduktionen einsetzt, erzählt in »Divertimento« die Geschichte von Ziouani und ihrer Schwester, der Cellistin Fettouma Ziouani, die sich in einer von Männern dominierten Musikwelt durchsetzten.
Am Anfang zeichnet Mention-Schaar ein idyllisches Bild. Zahia (Oulaya Amamra), die Tochter eines algerischen Einwandererpaares, setzt sich neben ihren Eltern auf das Sofa. Als Klein-Zahia den Chefdirigenten Sergiu Celibidache im Fernsehen sieht, leuchten ihre Augen. Die Musik, die sie hört, ist Ravels »Bolero«. Sanft beginnt sie, einen imaginären Taktstock zu schwingen. Zahia wird ihn nie wieder loslassen.
Wenn die U-Bahn über die Schienen rauscht, wenn ihre Mutter mit dem Schneebesen einen Teig rührt oder Zahia die Stadtlichter hoch über den Dächern dirigiert, spürt und hört sie Musik. Rhythmus umgibt sie, Musik ist Zahias Leben. Ihr Leben in dem französischen Vorort Stains richtet sich auch zehn Jahre später nach der Musik.
Mit 17 Jahren wechselt sie gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Fettouma (Lina El Arabi) in die Abschlussklasse des Pariser Elitegymnasiums »Lycée Racine«. Fettouma möchte Cellistin werden, Zahia träumt davon, eines Tages ein großes Orchester zu dirigieren. Als die Nachwuchsdirigentin chic gekleidet und ohne Taktstock vor das Orchester tritt, spottet die Klasse über sie. Die Probe sei weder ein Puppentheater, noch eine Modenschau.
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Als Zahia unverhofft in dem nicht gerade zimperlichen Konzertmeister Sergiu Celibidache (Niels Arestrup) ihren Mentor findet, scheint sich das Blatt zu wenden. Doch erst als sie dem Rat ihrer Schwester folgt und ihr eigenes, integratives Orchester bildet, spürt sie die Magie des Einklangs. In »Divertimento« setzt die Regisseurin, selbst Tochter eines Pianisten und Dirigenten, voll und ganz auf die Kraft der Geschichte. Zahia Ziouani und ihre Zwillingsschwester Fettouma waren bei allen Musikszenen anwesend und begleiteten die Schauspielerinnen auch vor den Dreharbeiten. El Arabi konnte vor der Arbeit an dem Film nur Geige spielen und nahm Cellounterricht bei Fettouma Ziouani, Amara lernte für »Divertimento« in monatelanger Arbeit zu dirigieren. Da ihre langjährige Kamerafrau Myriam Vinocour für ein anderes Projekt in die Regie wechselte, vertraute Mention-Schaar die Kameraführung der 24-jährigen Naomi Amarger an, mit der sie bisher nur einen Kurzfilm gedreht hatte. Amarger spürt impulsiv der Musik nach und folgt ihr mit der Kamera. Vor allem Zahia kommt sie ganz nah.
Für das Musikdrama wurden leicht zugängliche Stücke ausgewählt: Camille Saint-Saëns’ schwungvoller »Danse Bacchanale, Franz Schuberts frühlingshaft beschwingte «5. Sinfonie» und Sergej Prokofjews düsterer «Tanz der Ritter» aus «Romeo und Julia». Die Musik ist nie aufdringlich oder provoziert Stimmungen, sie fängt sie vielmehr ein. Und so komponiert Mention-Schaar mit «Divertimento» ein exzellent gespieltes Musikdrama über zwei Frauen, die alle Grenzen durch die Kraft der Musik überwinden.
«Divertimento: Ein Orchester für alle»: Frankreich 2022. Regie: Marie-Castille Mention-Schaar, Buch: Clara Bourreau, Marie-Castille Mention-Schaar. Mit: Oulaya Amamra, Lina El Arabi, Niels Arestrup. 114 Minuten, jetzt im Kino.
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