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The Big Lottmannski
»Der Mann ohne Meinungen«, der neue Roman von Joachim Lottmann, ist ein Lehrbuch der Gelassenheit
Es gab mal einen ehemaligen Waffen-SS-Mann, der Ende der 50er Jahre Schriftsteller wurde. Er schrieb anderthalb gute Bücher und danach viele schlechte, geschwätzig-manieristische. Aber das war nicht das Schlimme. Als Schriftsteller ist man per se Meinungsmacher. Doch das begriff der zu Ruhm Gekommene nicht. Er wollte losgelöst von seinen Romanen Meinung machen, und deshalb äußerte er sich öffentlich zu allen möglichen Themen, so wie es Politiker normalerweise tun. Besonders gern redete er über seine alte Liebe, die SPD, mit der er eine On-Off-Beziehung führte. Nur empfinden Zuhörer das Reden über On-Off-Beziehungen irgendwann als nervig – »oh nein, jetzt geht die Geschichte schon wieder los …« Voll krass wurde es dann auf der Zielgeraden des Lebens, als sein anscheinend aus Jugendtagen konservierter Judenhass aufbrach. Er, der ehemalige Waffen-SS-Mann, warf den Nachkommen der Naziopfer in einem Gedicht vor, sie würden den »Weltfrieden« gefährden. Spätestens da wünschte man sich, er hätte seine Meinung für sich behalten.
Joachim Lottmann könnte dergleichen nie passieren. Bereits 1987, in seinem Erstlingsroman »Mai, Juni, Juli«, betrieb er eine Art Meinungsäußerungs-Vermeidungsstrategie. Sich bloß nicht festnageln lassen. Jeden dargelegten Standpunkt im nächsten Absatz wieder relativieren oder revidieren. Dafür hat er nachvollziehbare Gründe. Während Günter Grass von der Richtigkeit und Wichtigkeit seiner Ansichten bis ins Mark überzeugt war (»uneinsichtig« waren stets nur die anderen, die seine Ratschläge nicht beherzigten), ist Joachim Lottmann ein Mensch voller Selbstzweifel. Man muss kein Tiefenpsychologe sein, um zu begreifen, was der Spross einer weltmännischen hanseatischen Familie erlitten haben muss, nachdem er ins tiefste Bayern verfrachtet worden war.
Diese »Kindheit in Belgisch-Kongo« hat Lottmann geprägt. Er ist die Außenseiterrolle nie wieder losgeworden. Nicht in Köln, wo er für »Spex« schrieb und erste Gehversuche als Schriftsteller wagte. Und auch nicht in Berlin, wo er – der selbsternannte einstige Bestsellerautor (»Die Jugend von heute«) – unter teils prekären Verhältnissen zu überleben versuchte. In »Der Geldkomplex« beschreibt er seine Odyssee als Schnorrer unter wohlhabenden Künstlern und Medienleuten. Das ist ein Festival an Situationskomik und zugleich tieftraurig, weil die Demütigungen durch eine sich überlegen wähnende Kulturkaste immer wieder durchschimmern. Diese schaut auf ihn herab, signalisiert ihm, dass er lästig und peinlich ist.
Ja, Joachim Lottmann selbst hat Verständnis für diese Verachtung. Sein Alter Ego (das in seinem neuesten Werk »Der Mann ohne Meinungen« zur Abwechslung mal nicht Johannes Lohmer, sondern Willi Monschein heißt) hat er noch nie geschont. Das Bild, das er in seinen Ich-Romanen von sich entwirft, ist nicht gerade vorteilhaft. Wiederholt bescheinigt er sich »krankhaften Geiz«. Und während Grass bei jeder Gelegenheit den deutschen Großschriftsteller raushängen ließ, macht Lottmann sich klein: »Schriftsteller waren vom Berufsprofil her Profischwafler. Sie mussten die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Aber ich wusste doch, dass ich in dieser Rolle immer versagt hatte. Nämlich in Interviews, die Reporter mit mir gemacht hatten.« Und was soll man von folgender Aussage halten: »Ich dachte an den Schriftsteller Martin Walser, den ich immer so gern gelesen hatte, gerade die letzten Bücher, die immer um seine Altersgeilheit kreisten. Es war so unfassbar peinlich (…). Ich verschlang das Zeug, immer ahnend, eines Tages in dieselbe Situation zu kommen.«
Zudem fährt er einen abenteuerlichen Zickzackkurs, sobald es um politische Themen wie zum Beispiel Migration geht. Da markiert er erst den Kleinbürger, der seine Vorurteile, Ängste und Klischeevorstellungen offenherzig ausbreitet, um im nächsten Satz in die Rolle des Citoyens zu schlüpfen, der das Gegenteil behauptet. Es kann durchaus vorkommen, dass er wenig später das Gegenteil vom Gegenteil verkündet undsoweiter undsofort. Diese argumentativen Mehrfachsaltos sind vermutlich in Lottmanns Lebensumfeld begründet. Er hat sich schon immer in linksliberalen Zirkeln bewegt und ist seit einigen Jahren mit der feministischen »feurig-engagierten« Wiener Journalistin Christa Zöchling verheiratet – da kommt es nicht so gut, wenn er sich als Fan des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz outet.
Und wie er das tut! Spätestens, wenn er Kurz mit Jesus vergleicht, fragt man sich entgeistert: »Meint er das ernst?« Zumal man auch diesmal den Wahrheitsgehalt mancher Passagen anzweifeln darf. Hat Sebastian Kurz ihm wirklich unter vier Augen verraten, er könne sich in zehn Jahren eine Rückkehr in die Politik vorstellen? Und wenn dem so wäre: Wie illoyal ist Lottmann, wenn er Kurz mit den Worten zitiert: »Ich vertraue Ihnen, deshalb kann ich Folgendes sagen«, nur um dann eben dieses Vertrauen zu brechen, indem er das Vertrauliche ausplaudert.
Joachim Lottmann ist nicht greifbar, und dadurch wird er unangreifbar. Selbst der Buchtitel führt in die Irre. Lottmann ist nicht »Der Mann ohne Meinungen«, sondern der Mann mit tausendundeiner Meinung. Und genau das macht auch sein neues Werk so grundsympathisch. In einer Zeit, in der Meinungen wie eine Monstranz vor sich hergetragen werden, betreibt Lottmann intellektuelle Abrüstung. Durch seine geistigen Kapriolen veranschaulicht er: Jede Ansicht ist relativ. Man muss nur den Blickwinkel ändern, und schon sieht alles ganz anders aus.
Das gilt selbst für das Grundmotiv seines aktuellen Romans. Vordergründig mag es um Begegnungen mit Sebastian Kurz gehen. Doch tatsächlich bilden diese nur den äußeren Rahmen und voyeuristischen Köder, um genüsslich das Lottmann-Universum auszubreiten. Dort geht es diesmal noch fröhlicher und absurder zu als sonst. So entpuppt sich der Kauf von Apple-Kopfhörern als hochkomplexe Mammutaufgabe – wodurch Lottmann den quasi-religiösen Kult um Apple-Produkte ins Lächerliche zieht.
Ja, auf seine alten Tage läuft der Pate der Popliteratur noch einmal richtig zu Hochform auf. Er fabuliert und übertreibt, dass es eine helle Freude ist. Da wird noch der harmlose Besuch in einem orientalischen Supermarkt zu einem Psychotrip. Das ist nicht nur kurzweilig, sondern auch kurz. Er, der sonst 300 Seiten und mehr braucht, um die Verstrickungen seines Lebens halbwegs zu entwirren, ist diesmal schon nach 140 Seiten mit sich und der Welt im Reinen. Und die Leser sind es auch. »Der Mann ohne Meinungen« entpuppt sich als Lehrbuch der Gelassenheit, verfasst von The Big Lottmanski.
Joachim Lottmann: Der Mann ohne Meinungen. Haffmanns Verlag bei Zweitausendeins, 144 S., geb., 20 €.
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