Zu viel Ärger mit Attesten in der Kindermedizin

Katastrophale Lage in der Kindermedizin fällt zusammen mit fehlender Therapie bei schweren Krankheiten

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 6 Min.
Kinderärztin mit Patientin: Nicht immer gibt es schnell einen Termin für besorgte Eltern.
Kinderärztin mit Patientin: Nicht immer gibt es schnell einen Termin für besorgte Eltern.

Es ist Sommer, die Feriensaison naht. Vergessen scheint für eine Weile die katastrophale Lage in Kinderkliniken und -arztpraxen im vergangenen Herbst und Winter: Eine langanhaltende heftige Infektwelle hatte für wochenlange Versorgungsengpässe gesorgt.

Eltern waren in der Kälte mit schwer kranken Kindern zwischen überlasteten Praxen und Rettungsstationen gependelt, Lieferengpässe bei einfachen Fieber- und Hustensäften sorgten für dramatische Verläufe bei Erkältungsinfekten. Kranke Kinder mussten mitunter über Hunderte Kilometer hinweg zu freien Krankenhausbetten gebracht werden. Anhaltende Personalnot in der Pflege verstärkte die Belastung noch.

Dabei sei die Möglichkeit, mit einem fiebernden Kleinkind auf dem Arm zwei Stunden mit der U-Bahn zu fahren, um in einer Apotheke am anderen Ende der Stadt Ibuprofen-Saft zu besorgen, geradezu ein Luxus, erklärt Thomas Fischbach etwas polemisch. In ländlichen Regionen sei die Situation ungleich dramatischer, so der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ) in Deutschland bei dessen Jahresversammlung im Juni in Berlin.

Den 500 Mediziner*innen, die daran teilnehmen, ist die Situation des vergangenen Winters noch sehr präsent. Auch deshalb, weil die Infektwelle zwar abgeklungen sein mag, aber die Situation sich absehbar und zeitnah wieder zu verschlimmern droht – und weil sie sich nicht erst seit der Corona-Pandemie und ihren Folgen so drastisch entwickelt.

Zudem habe mittlerweile jedes dritte Kind zwischen 10 und 12 Jahren ein zu hohes Körpergewicht; Essstörungen bei Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren hätten sogar um 54 Prozent zugenommen, erklärt Thomas Fischbach. Zudem hätten über 70 Prozent der Jugendlichen mit psychischen Folgen der Pandemie zu kämpfen. Die Arzneimittelknappheit droht wegen der Verlagerung von Produktionsstandorten zum Normalzustand zu werden.

Wenn kranke Kinder länger brauchen, um sich zu erholen, benötige man entsprechend ausgebildetes Personal, um sie gut zu begleiten, erklärt Tanja Brunnert, Kinderärztin aus Göttingen. Stattdessen laufe man »sehenden Auges in eine Katastrophe hinein«, so BVKJ-Sprecherin Brunnert. »Der Unmut darüber ist in der Ärzteschaft sehr groß.« Denn für die Medizinerin und ihre Kolleg*innen begründet sich die Lage vor allem mit gesundheitspolitischen Verfehlungen.

Seit Langem bekannt ist die Tatsache, dass die Überalterung der Mediziner*innen in den kommenden Jahren für eine klaffende Lücke in der Praxisversorgung sorgen wird, die ohnehin schon zu dünn ist. Ein Viertel der niedergelassenen Kinderärzt*innen geht in den nächsten fünf Jahren in Rente. Aber weder die Forderung nach deutlich mehr als den derzeit vorhandenen 11 000 Studienplätzen für künftige Pädiater*innen noch die nach mehr Wertschätzung und Weiterbildungsmöglichkeiten für das nötige Fachpersonal hat bislang zu Konsequenzen geführt. »Viele junge Ärzt*innen wollen zudem familienfreundlich und in Teilzeit arbeiten – es braucht demnach sogar noch mehr als die noch vor 20 bis 30 Jahren vorhandenen 16 000 Studienplätze«, so Fischbach.

Stattdessen sehen sich die Mediziner*innen überbordenden bürokratischen Forderungen und gesetzlichen Beschränkungen ausgesetzt, die es ihnen unmöglich machen, etwa die Personallücke bei Medizinischen Fachangestellten zu schließen, die für den Praxisbetrieb unabdingbar sind. »Uns brechen die Teams auseinander«, erklärt der Berliner Kinderarzt Jakob Maske. In der Konsequenz müssten Praxen ihre Öffnungszeiten verringern oder sogar ganz schließen.

Es gehe aber, so Fischbach, »um eine auskömmliche und faire finanzielle Basis unserer Praxen«. Weiterbildungen für das Fachpersonal müssten von den Krankenkassen gegenfinanziert, die Löhne analog zu Budgets in den Kliniken angehoben werden. Das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Mediziner*innen sei zudem durch »unsinnige Auskunftsbegehren« Ersterer belastet, beklagt Fischbach.

»Zeit und Ärger« kosteten auch die Atteste, die Eltern bei harmlosen Infekten vorweisen müssen, um sich für die Betreuung ihrer Kinder freistellen zu lassen. »Es ist ein unnötiger Einsatz von pädiatrischen Ressourcen, eine harmlose Krankheit bescheinigen zu müssen, nur weil die Eltern wegen eines verschnupften Kindes, das nicht in die Kita kann, der Arbeit fernbleiben müssen.« Die Kinder-AU gehöre daher »abgeschafft, denn es besteht keine medizinische Notwendigkeit, diese Kinder dem Kinder- und Jugendarzt vorzustellen«, so der BVKJ-Vorsitzende.

Einzig die im April dieses Jahres erfolgte vollständige Entbudgetierung der ambulanten Pädiatrie sei ein Meilenstein für eine größere Versorgungssicherheit für Kinder und Jugendliche, so Fischbach. »Und ein Schritt, der überfällig und alternativlos war.« Denn man bekomme nun nicht mehr Geld, sondern statt vorher 84 Prozent schlicht die 100 Prozent der zustehenden Vergütung, während man zuvor 100 Prozent und mehr gearbeitet habe, aber nur 84 Prozent vergütet worden sei.

Wie sich die Entbudgetierung konkret auswirke, werde man allerdings erst im Herbst beurteilen können, heißt es. Bis dahin sei Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angehalten, auf Bundesebene weitere Schritte einzuleiten – im Klartext: durch Gesetzgebung »föderales Gerangel« zwischen den einzelnen Bundesländern zu beenden, zum Beispiel im Hinblick auf die Anzahl der Studienplätze.

Angesichts dessen sind die Schilderungen von Patrick Gerner, wissenschaftlicher Leiter des BVKJ, besorgniserregend. Gerner macht in einem prägnanten Vortrag auf eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen aufmerksam, deren Schicksal von der dramatischen Versorgungslage besonders negativ beeinflusst wird: Etwa 40 000 junge Menschen, die derzeit an ME/CFS leiden. Die Abkürzung steht für die seit 50 Jahren bekannte und zugleich vielen Kinderärzt*innen bis dahin selten untergekommene Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Sie folge allerdings, so Gerner, keinem bekannten Schema. Im Blick auf Symptome und Therapieansätze »fische man sehr im Trüben«.

Betroffen sind viele, bis dahin gesunde junge Menschen. Vielen sei gemeinsam, dass herkömmliche Sinnesreize in kürzester Zeit zu einer kaum zu bewältigenden Belastung würden, die Erkrankte schnell zu schweren Pflegefällen werden ließe. »Schon geringste Belastung wie Zähneputzen kann zur Tortur werden«, erklärt Gerner. Schwerstbetroffene könnten sich kaum im Bett umdrehen, wo sie in lärmgedämmten und abgedunkelten Räumen die Tage verbringen.

»Es ist offiziell eine Fatigue-Erkrankung«, zugleich sind viele Organsysteme betroffen. Wie können Angehörige damit umgehen? »Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Kind, das Sie nicht berühren dürfen, das Sie nicht in die Klinik bringen können, weil jede Aktivierung mit einer dramatischen Verschlechterung einhergeht, das Sie zu Hause versorgen müssen, ohne dass es ärztliche Hausbesuche oder Therapieansätze dafür gibt.«

Nicht zuletzt für diese Kinder ist eine Verschiebung gesundheitspolitischer Prämissen die einzige Chance auf angemessene Versorgung. Die Vorschläge aus der Praxis liegen vor, die Politik muss handeln.

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