DNA liegt in der Luft

Luftproben bestehender Messstationen könnten zur Überwachung der Artenvielfalt genutzt werden

  • Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 6 Min.
Luftmessstationen wie hier in Stuttgart fangen nicht nur Schadstoffpartikel ein, sondern auch DNA-Spuren von Lebewesen, die sich in der Umgebung aufhalten.
Luftmessstationen wie hier in Stuttgart fangen nicht nur Schadstoffpartikel ein, sondern auch DNA-Spuren von Lebewesen, die sich in der Umgebung aufhalten.

Schätzungsweise 150 Tier- und Pflanzenarten sterben jeden Tag aus. Obwohl das Übereinkommen über die biologische Vielfalt und damit verbundene internationale Verträge von den Ländern verlangen, den Artenreichtum und dessen Rückgang zu kontrollieren, ist dies im großen Maßstab schwierig. Ein Wissenschaftlerteam aus Kanada und Großbritannien hat nun eine kostengünstige Methode vorgeschlagen, um den Verlust an Artenvielfalt global zu messen: Die Nutzung Tausender bereits existierender Stationen zur Messung der Luftqualität.

Der Biodiversitätsschwund lasse sich bislang nur schwerlich global quantifizieren, schreiben die Forscher in ihrer in »Current Biology« veröffentlichten Studie. Häufig werde als Problem genannt, dass die erforderliche Infrastruktur für eine globale Überwachung fehle. Doch die bereits weltweit vorhandenen Stationen zur Überwachung der Luftverschmutzung könnten dabei helfen, den Artenschwund wissenschaftlich zu quantifizieren. Die Luftproben enthielten eine regelrechte »Schatzkammer« bislang verborgener Daten zur Biodiversität. Denn in den Filtern der Messstationen verfangen sich nicht nur Luftschadstoffe und Staubteilchen, sondern auch Partikel und DNA von Tieren und Pflanzen. Diese sogenannte Umwelt-DNA (eDNA) aus den Filtern können die Forscher analysieren und damit die Artenvielfalt in der Umgebung der Luftmessgeräte quantifizieren.

»Das Potenzial kann nicht hoch genug eingeschätzt werden«, so die Koautorin Joanne Littlefair von der Queen Mary University of London. »Es könnte ein absoluter Wendepunkt bei der Erfassung und Überwachung der Biodiversität sein. Fast jedes Land verfügt über eine Art Luftüberwachungssystem oder -netzwerk, entweder staatlich oder privat und in vielen Fällen beides.« Damit könnte erstmals die biologische Vielfalt standardisiert in großem Maßstab gemessen werden.

Nachweis 180 verschiedener Arten

Die Forscher sammelten Proben einer Luftqualitätsmessstation am Rand eines Stadtparks in London. Außerdem analysierten sie acht Monate alte Luftproben einer Messstation in Schottland. An beiden Standorten konnten sie eDNA von 34 Vogel- und 24 Säugetierarten sowie einer Vielzahl von Insekten- und Pflanzenarten in den Filtern nachweisen. »Was wir bei der Analyse der Filter dieser Überwachungsstationen herausgefunden haben, ist erstaunlich. An nur zwei Standorten haben wir eDNA-Nachweise für mehr als 180 verschiedene Pflanzen und Tiere gefunden«, sagt Elizabeth Clare von der York University in Toronto, ebenfalls Mitautorin der Studie.

Die schottischen Proben zeigten dabei, dass eDNA auf den Filtern überraschend stabil und auch nach Monaten und möglicherweise Jahren noch nachweisbar ist. Da Luftproben schon seit Jahrzehnten gezogen und aufbewahrt werden, könnten deshalb auch Rückblicke auf die Entwicklung der Biodiversität in den verschiedenen Ländern möglich sein.

Noch sind viele Details zu klären. Auf Anfrage des »nd«, wie sicher und in welchem Umkreis der Luftkontrollstationen sich Arten bestimmen lassen, antwortete Elizabeth Clare: »Wir kennen den räumlichen Radius noch nicht. Dies ist ein Pilotprojekt, das lediglich das Potenzial dieser Systeme demonstriert. Wir arbeiten derzeit aber an einem neuen Projekt, um dies zu messen. Es hängt auch davon ab, welche Partikelgröße die Luftmessgeräte und Filter sammeln.« Kleinere Partikel könnten sich über eine sehr weite Distanz bewegen und mit feineren Filtern erfasst werden.

Bereits im vergangenen Jahr hatten das kanadisch-britische Forscherteam von Elizabeth Clare sowie Forscher aus Dänemark die Luft in der Umgebung von Zoos auf Umwelt-DNA untersucht. Clares Team sammelte Proben in der Umgebung des Hamerton-Zoo-Parks in Huntingdon, während das dänische Forscherteam um Kristine Bohmann von der Universität Kopenhagen in der Luft des Zoos der dänischen Hauptstadt nach DNA fahndete.

Die britisch-kanadischen Forscher wiesen Umwelt-DNA von 25 Säugetier- und Vogelarten nach, von denen 17 bekannte Zooarten waren. Dabei konnten sie sogar eDNA von Tieren sammeln, die Hunderte von Metern vom Messort entfernt waren, und entdeckten DNA des in Großbritannien vom Aussterben bedrohten eurasischen Igels außerhalb des Hamerton-Zoo-Parks. Das dänische Team um Bohmann wiederum konnte 49 Wirbeltierarten per Luft-DNA nachweisen, darunter Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fische. Die beiden Forscherteams halten die Bestimmung von Umwelt-DNA von Wirbeltieren in der Luft für ein wertvolles, »nicht invasives« Instrument zur Überwachung der Artenvielfalt in der nahen Zukunft. Vor allem gefährdete oder bedrohte Arten in schwer zugänglichen Gebieten könnten damit künftig besser kontrolliert werden, so ihre Hoffnung.

Bereits 2020 hatte ein schwedisches Forscherteam erstmals nachgewiesen, dass DNA aus Luftproben gewonnen werden kann. Die Arbeitsgruppe des Ökologen Fabian Roger von der Universität Lund postierte ein Luftansauggerät in einer Graslandschaft, deren Insektenvorkommen bekannt sind. Die Ökologen nutzten allerdings keine Filter, sondern genetische Sonden, die Erbgut binden können. So fanden sie über 1800 verschiedene Gensequenzen von Insekten, Wirbeltieren, Pilzen und Pflanzen. Ein weiteres Forscherteam aus Schweden von der Universität Umeå fahndet seit 2020 nach Umwelt-DNA in den archivierten Filtern von sechs Luftmessstationen in Schweden. Die dortigen Messungen begannen bereits vor rund 60 Jahren während des Kalten Krieges, um möglichen radioaktiven Fallout zu erfassen. Damit steht den Forschern ein einzigartiges Archiv zur Verfügung, um die Veränderung der Artenvielfalt in Schweden über die Jahre hinweg zu erfassen.

»Wir waren extrem überrascht, auf DNA von praktisch jedem einzelnen Organismus in Schwedens Ökosystemen zu stoßen: von Viren, Bakterien, Pflanzen, Pilzen, Tieren. In den Filtern fanden sich sogar genetische Spuren von Darmparasiten aus Säugetieren«, sagte der Genetiker Per Stenberg, von der Universität Umeå damals gegenüber dem Deutschlandfunk. Die Forscher konzentrierten sich zunächst auf Umwelt-DNA von Insekten und fanden heraus, dass die meisten Bestände zurückgehen. Laut Stenberg gibt es aber durchaus Ausnahmen. Im nordschwedischen Kiruna nähme zum Beispiel die Zahl der Schmetterlinge zu. »Die globale Erwärmung ermöglicht es neuen Arten, so weit im Norden einzuwandern.« Luftfilter könnten auch als Frühwarnsystem eingesetzt werden, um die Einwanderung exotischer, Krankheiten übertragender Stechmücken zu überwachen, schlägt der Forscher vor.

Auch menschliche DNA gefunden

Die groß angelegte Analyse von Umwelt-DNA aus Luft- oder Wasserproben hat allerdings eine Schattenseite, wie eine im Mai 2023 im Fachblatt »Nature Ecology and Evolution« veröffentlichte Studie aus Florida zeigt. Denn auch die menschliche DNA wird mit erfasst. »Wir waren während des gesamten Projekts immer wieder überrascht, welche Menge an menschlicher DNA wir finden und welche Qualität diese DNA hat«, so Autor David Duffy in einer Pressemitteilung der University of Florida. »In den meisten Fällen entspricht die Qualität beinahe der von Proben, die Personen entnommen werden.«

Es gelte daher zwischen dem möglichen Nutzen von eDNA-Untersuchungen und dem persönlichen Datenschutz abzuwägen. Wissenschaftler und Aufsichtsbehörden müssten sich deshalb jetzt mit den ethischen Dilemmata auseinandersetzen, die mit der versehentlichen – oder absichtlichen – Entnahme menschlicher genetischer Informationen einhergehen.

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