Entfesselte Demokratie in Frankreich

Oliver David über die französischen Proteste und ihre Ursachen

  • Olivier David
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt Gegenden, von denen hört man nur, wenn es knallt. So ist es mit Mantes la Jolie, dem Banlieue im Nordwesten von Paris, in dem mein Vater aufgewachsen ist. Von den Protesten gegen die Hochschulreformen 2018 ist mir ein Bild in Erinnerung geblieben. Etwa 150 Kinder, fast alle schwarzer Hautfarbe, kauerten auf dem Boden, die Köpfe geduckt, die Hände hinter den Rücken gefesselt. Vor ihnen weiße französische Polizisten. Auf Twitter schrieb jemand, das Bild erinnere ihn an Fotos von Exekutionen. Auch bei den Aufständen nach dem Tod des 17-jährigen Nahel Merzouk aus Nanterre, der Ende Juni von einem Polizisten erschossen wurde, war Mantes la Jolie wieder im Fokus. Jugendliche setzten das dortige Rathaus in Brand.

Aber nicht nur dort, überall in Frankreich explodierte die Gewalt in den vergangenen zwei Wochen. Und es gibt bereits mehrere Tote. Ein 54-Jähriger starb in Französisch-Guyana an einer »verirrten« Polizeikugel. Ein Feuerwehrmann starb beim Löschen eines Autos, und ein 27-Jähriger wurde in Marseille durch ein Gummigeschoss der Polizei getötet. Auch wenn die vergangenen Nächte ruhiger geblieben sind, die Intensität der Gewalt ist deutlich höher als nach den Aufständen 2005, als zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei starben.

Doch nicht nur die Gewalt ist stärker, auch die Reaktion auf sie eskaliert. In einem halben Dutzend französischer Städte kämpften zuletzt französische Antiterroreinheiten gegen die zumeist jugendlichen Aufständischen, manche von ihnen sind erst 12 oder 13 Jahre alt. Ministerpräsidentin Elisabeth Borne hat angekündigt, auch gegen die Eltern der festgenommenen Jugendlichen hart ins Gericht zu gehen. Macron erwägt, bei weiteren Ausschreitungen soziale Netzwerke zu blockieren.

Derweil sollen in Lorient 30 vermummte Soldaten der Marine Jagd auf jugendliche Aufständische gemacht haben. Der Bürgermeister von Lorient gibt an, falls an den Vorwürfen etwas dran sein sollte, hätten die Soldaten nicht in offiziellem Auftrag gehandelt. In einigen französischen Städten machten in den vergangenen Tagen bewaffnete faschistische Gruppen ebenfalls Jagd auf migrantische Jugendliche.

Vermummte Soldaten, die Idee, soziale Netzwerke zu sperren, Tote und Dutzende Schwerverletzte, Nazis, die Jagd auf migrantische Jugendliche machen: Was ist da los in Frankreich? Und warum lesen sich derartige Aufzählungen wie die Schilderungen aus quasi-autokratischen Staaten?

Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass der Mord an Nahel nur der Funke war, der das Pulverfass Frankreich erneuert zum Explodieren gebracht hat. Jedoch geht es bei den Kämpfen um weit mehr als um Rassismus. Es geht um den Zustand einer Gesellschaft, in der Millionen Menschen ohne Perspektive verarmen.

Die Ursprünge der Wut der aufständischen Jugendlichen liegen in einer jahrzehntelangen Politik des französischen Sozialabbaus. Sie liegen in der Verschränkung von Rassismus und Kapitalismus, die den Jugendlichen in den Banlieues die schlechtesten Karten für die Zukunft austeilt. Wer ernsthaft Interesse daran hat, seine Lage zu verbessern, muss sozialpolitisch komplett umschwenken.

Wenn man die Situation in Frankreich als einen Stresstest für die Demokratie lesen würde, Frankreich wäre mit wehenden Fahnen durchgefallen. Der Ausspruch der französischen Linken – wer Macron wählt, bekommt Le Pen – droht Wirklichkeit zu werden: Bereits im Mai lag Marine Le Pen vom rechtsnationalen Rassemblement National mit 55 Prozent gegenüber Macron vorne. Die Aufstände dürften ihr in die Karten spielen. Schon jetzt hat sie mehr als die Hälfte der Beamten in Frankreich hinter sich.

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