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Bei 35 Grad gegen Rammstein

Hunderte protestieren vor dem Olympiastadion, Tausende gehen trotzdem zum Konzert

Keine Show für Täter: Demonstrierende wollen die Konzerte der Band Rammstein im Olympiastadion verhindern.
Keine Show für Täter: Demonstrierende wollen die Konzerte der Band Rammstein im Olympiastadion verhindern.

Die Sonne brennt vom Himmel und heizt den Platz vor dem Olympiastadion auf. Bei 35 Grad und kaum Schatten sitzen hier mehrere Hundert Aktivist*innen, umgeben von Polizeigittern. Die Gitter sollen das Zusammentreffen der Aktivist*innen mit den Tausenden Rammstein-Fans verhindern, die den ganzen Nachmittag und Abend lang eintreffen, um die Band live zu sehen. Am Samstag fand das erste von drei Rammstein-Konzerten in diesem Monat in Berlin statt.

»Wir sind hier, weil wir solidarisch mit den Betroffenen sind, weil wir ihnen glauben. Jeder Mensch, der das nicht tut, unterstützt die Gewalt«, ruft ein*e Aktvist*in des Bündnisses »Kein Rammstein in Berlin« ins Mikrofon. Es geht den Anwesenden um die schweren Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann. Junge Frauen sollen in seinem Auftrag auf Rammstein-Konzerten zum Sex mit ihm ausgesucht worden sein, ohne dass diese Frauen angemessen darüber informiert worden sind, was Lindemann mit ihnen vorhat. Erfahrungsberichten zufolge sollen die Betroffenen dabei auch zum Alkoholkonsum gedrängt und unwissentlich unter Drogen gesetzt worden sein.

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Lindemann bestreitet die Vorwürfe. Seine Anwälte, die schon den umstrittenen Komödianten Luke Mockridge gegen Anschuldigungen sexuellen Missbrauchs verteidigt haben, verweisen darauf, rechtlich würden keine Beweise gegen Lindemann vorliegen. Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft dauern an.

»Wir sind nicht nur hier, um gegen Rammstein und die Fans zu demonstrieren«, heißt es im Redebeitrag des Bündnisses. Vorwürfe sexualisierter Gewalt gegen viele weitere Musiker, aktuell zum Beispiel Materia und Feine Sahne Fischfilet, zeigten, dass Diskriminierung und Gewalt im Zusammenhang mit Bands und Konzerten alltäglich sind. »Nur für bestimmte Menschen ist es möglich, ungezwungen am Nachtleben teilzunehmen.«

Auch die Gruppe »Keine Show für Täter« nimmt an der Kundgebung teil. Schon vor etwa zwei Wochen hatten die Aktivist*innen einen Protest gegen den Auftritt von Luke Mockridge in der Mercedes-Benz-Arena organisiert. Sie kritisieren in ihrem Redebeitrag den Umgang mit Betroffenen, die öffentlich von ihren Erfahrungen berichten. »Anstatt den Blick in Richtung der vermeintlichen Täter zu richten, werden die Betroffenen an den Pranger gestellt.« Im aktuellen Fall sei von Groupies die Rede, und man müsse ja wissen, was auf solchen After-Show-Partys passiere. »Systematisch werden alle, die gegen diese Ungerechtigkeit und ekelhaften Strategien aufstehen, zum Schweigen gebracht.«

Die Aktivist*innen, die dem Aufruf von »Kein Rammstein in Berlin« gefolgt sind, wollen nicht schweigen. Schon um 14.30 Uhr versammeln sich die Demonstrierenden am Samstagmittag am Theodor-Heuss-Platz und laufen laut rufend zum Olympiastadion – von Beginn an begleitet von einigen Rammstein-Fans, die aber von Ordner*innen und Polizei von der Demonstration ferngehalten werden. Mit etwa 300 Menschen kommen sie gegen 16 Uhr dort an und werden von pöbelnden und filmenden Fans in Empfang genommen. Im Laufe des Tages haben etwa 500 Menschen am Protest teilgenommen, sagt Bündnissprecherin Lisa Jarzinski. »Unsere Hauptforderungen sind, dass die Vorwürfe juristisch akribisch aufgearbeitet werden, dass es eine kulturpolitische Aufarbeitung gibt und dass es eine Entschädigung der Betroffenen gibt.«

Demo vor Berliner Konzert: Feminist*innen protestieren gegen Rammstein

Leider würden aber Gerichtsverfahren in den meisten Fällen nicht zu Gunsten von Betroffenen ausgehen. Deshalb brauche es mehr feministische Rechtsanwält*innen und Richter*innen. Oder: »einfach das Patriarchat stürzen«. Die Rammstein-Fans nimmt Jarzinski als gleichgültig bis aggressiv wahr. »Teilweise zeigen sie den Hitlergruß oder schwenken Deutschlandflaggen.« Auch ein*e Ordner*in der Demonstration bestätigt gegenüber »nd«, dass Fans von Rammstein den Hitlergruß und vulgäre Gesten gezeigt und Vergewaltigungsdrohungen ausgesprochen haben. »Wir haben schon im Vorfeld Drohungen bekommen«, sagt Jarzinski.

»Das ist eine ganz komische Stimmung hier. Eine Mischung aus subtiler passiv-aggressiver Männlichkeit bis hin zu Unverständnis, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, Betroffenen zu glauben«, erklärt Jarzinski. Das spiegelt auch eine kurze Befragung der gaffenden Fans: Sie äußern sich überzeugt davon, dass die betroffenen Frauen alles freiwillig mitmachten. Daneben filmen und fotografieren sie, trinken Bier und rufen die Fäuste reckend im Chor: »Rammstein.« Was die Aktivist*innen ergänzen mit: »... ist scheiße, ihr seid die Beweise«.

Eine Demonstrantin berichtet gar, ein Rammstein-Fan sei auf den Kundgebungsplatz gelangt und habe ein »Selfie« mit ihr im Bild gemacht. Dann sei er wieder auf die andere Seite der Absperrung gegangen. Das Foto habe er nicht löschen wollen. Die Polizei habe auch keinen Anlass gesehen, tätig zu werden. »Es ist Scheiße, dass der jetzt ein Foto von mir hat. Und dass die Polizei das nicht als übergriffig wahrnimmt«, sagt die Demonstrantin. Sie findet es erschreckend, wie viele Menschen das Konzert besuchen. »Wie könnt ihr nur die Täter schützen?«

So sieht es auch Lu, Aktivistin der Feministischen Antifaschistischen Jugendorganisation Charlottenburg. »Alle, die heute zu diesem Konzert gehen, sind Mittäter«, sagt sie in ihrer Rede. Zu viele würden das System des Machtmissbrauchs nicht verstehen wollen, welches sich am Fall Lindemann zeige. »Sie fügen sich in die Strukturen des Machtmissbrauchs mit ein und reproduzieren und bestärken diese Verhältnisse.« Es gelte, die Hierarchien des Patriarchats aufzubrechen. »Wir hören nicht auf zu schreien, bis diese Hierarchien fallen.«

Nach zahlreichen Reden und Musikeinlagen verlassen die Protestierenden zu Konzertbeginn gegen 20 Uhr das Olympiastadion. »Wir wünschen allen Rammstein-Fans ein beschissenes Konzert«, heißt es zum Abschied. Eine Spontandemonstration bis zur Bahn genehmigt die Polizei nicht. So müssen die Leute in kleinen Gruppen vorbei an verspäteten Konzertbesucher*innen.

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