Olivia Sudjic: Autorinnenschaft und Angst

Olivia Sudjics autobiografischer Essay »Exponiert« erkundet die Risiken und Nebenwirkungen des Schreibens und Veröffentlichens im digitalen Zeitalter

  • Paul Wolff
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie ein Reh im Scheinwerferlicht fühlt sich die Schrifstellerin Olivia Sudjic.
Wie ein Reh im Scheinwerferlicht fühlt sich die Schrifstellerin Olivia Sudjic.

Olivia Sudjic ist Gast einer Schreibresidenz in Brüssel, als die Angst zuschlägt: Sie bringt nichts mehr zu Papier, bekommt ein schlechtes Gewissen und zweifelt an ihren schriftstellerischen Fähigkeiten. Überall wittert die britische Autorin soziale Bedrohungen, denen sie vorsorglich aus dem Weg geht. Sie verbarrikadiert sich in ihrer Wohnung, wo sie immer nervöser und ängstlicher wird und schließlich selbst von einem belanglosen Anruf in die nächste Panikattacke gestürzt werden kann.

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Es ist ein Strudel aus »Angst, Selbsthass, Selbstmitleid und Scham«, der sie immer tiefer hinabzieht. Dabei hatte Sudjic 2017, zur Zeit dieser verstörenden Erfahrung, in der auch »Exponiert« entstand, eigentlich allen Grund, selbstbewusst und optimistisch zu sein. Immerhin war kurz zuvor ihr erfolgreiches Romandebüt »Sympathie« erschienen. Doch die Angst folgt einer eigenen Logik.

Fast ein Drittel der Menschheit entwickelt irgendwann eine Angststörung. Für diese soziale Pandemie gibt es verschiedene Erklärungen: Einsamkeit, Leistungsdruck, ökonomische Instabilität sowie Krisenerfahrungen wie die drohende Klimakatastrophe oder zuletzt die Corona-Pandemie können individuelle Ängste befeuern.

Den Auslöser ihrer eigenen Angstspirale sieht Sudjic allerdings ausgerechnet in der Publikation ihres Romans, die sie als eine Bloßstellung erlebt, die Werk und Autorin exponiert und der öffentlichen Beurteilung aussetzt. Dieses »Berufsrisiko für Schriftsteller*innen« verallgemeinert der Essay in einer klugen argumentativen Wendung für die digitale Gesellschaft. Denn das Internet, ehemals ein utopischer Ort freier Meinungsäußerung und Vernetzung, sorgt durch die zunehmende Überwachung von Nutzer*innen dafür, dass diese unablässig gesehen und beurteilt werden: »Man hat das Gefühl, dass alle hinter ihren Bildschirmen lauern und sich gegenseitig sichtbar oder unsichtbar beobachten.« Wer Sudjics Arbeit verfolgt, kennt dieses Szenario aus ihrem Roman, dessen Protagonistin vorwiegend darüber charakterisiert wird, dass sie eine von ihr verehrte (und begehrte) Autorin auf Instagram stalkt.

Exponierung trifft indessen nicht alle gleich. Insbesondere Frauen, die sich und ihre Texte der Öffentlichkeit aussetzen – sei es im Literaturbetrieb oder in den sozialen Medien – werden laut Sudjic meist anders wahrgenommen als männliche Autoren. Das beginnt damit, dass männliche Erfahrungen als universal gerahmt werden, während Protagonistinnen als partikular und inkonsistent gelten.

Weil Sudjic durch den überwiegend männlichen Kanon darauf konditioniert wurde, sich in männliche Figuren hineinzuversetzen, habe sie lange gebraucht, bis sie aus einer weiblichen Ich-Perspektive erzählen konnte. Der Preis, den sie dafür zahlen musste, war, dass sie ständig mit der Protagonistin ihres Romans identifiziert wurde. Angesichts biografischer Überschneidungen (Autorin und Protagonistin haben einige Zeit allein in New York verbracht) traute man es ihr offenbar nicht zu, sich eine fiktionale Handlung auszudenken – als sei sie »das passive Gefäß für eine Geschichte, die ihr wiederfuhr, und nicht eine Autorin, die der Geschichte wiederfuhr«. Kein Wunder also, dass sich Sudjic nach der Romanveröffentlichung entblößt und ängstlich fühlte.

Die Form des Essays zielt laut Sudjic darauf ab, »zu sichten und zu erhellen«. Statt im Selbstmitleid zu schwelgen, fragt »Exponiert« deshalb nach produktiven Umgangsweisen mit der Angst. Ihr Heilmittel findet die Autorin nicht in Therapien oder Medikamenten, sondern in der Literatur. Namentlich Texte von Maggie Nelson, Chris Kraus, Rachel Cusk, Jenny Offill, Clarice Lispector und Elena Ferrante, die einen neuen (und leider überwiegend weißen) feministischen Kanon repräsentieren, dienen ihr als »Talismane, die man gegen die Vernichtung in der Hand hält«.

Diese Talismane zeigen Auswege aus dem Dilemma der Exponiertheit. Da sind zum einen Vermeidungsstrategien: Sadie Smith verweigert sich den sozialen Medien, um ihr »Recht auf Fehler« zu wahren; Elena Ferrante publizierte bis zu ihrer Enttarnung unter einem Pseudonym, damit niemand auf die Idee kam, die Autorin mit ihren Figuren gleichzusetzen. Auf der anderen Seite stehen literarische Expositionstherapien wie Rachel Cusks Scheidungsmemoiren oder Chris Kraus’ »I Love Dick«, die weibliche Perspektiven selbstbewusst in die Öffentlichkeit tragen, sich gezielt verletzbar machen und so zeigen, wie politisch das Private sein kann.

Für Sudjic erweist sich eine Balance zwischen Exponierung und Entzug, zwischen Fakt und Fiktion als gangbarer Weg: »Indem ich Erfahrungen fiktionalisiere, die sich mit meinem eigenen Leben überschneiden, spüre ich, wie ich weniger greifbar werde.« Und dank der Talismane weiß die Autorin, dass sie mit ihren Ängsten nicht allein ist: »Wie die meisten Menschen lese ich nicht nur, um Unterschiede zu entdecken, sondern auch, um Gemeinschaft zu finden. Um das Gefühl zu haben, dass mein Innenleben und das der Autorin kurz miteinander verschmolzen sind.« Das ist auch eine schöne Beschreibung für die Poetik des Essays, in dem Sudjic einen Dialog mit ihren Vorbildern führt und deren Stimmen gekonnt mit eigenen Erfahrungen und Gedanken verwebt.

Auf diese Weise öffnet sich die Einsamkeit des Brüsseler Apartments schrittweise für eine imaginierte literarische Gemeinschaft. Wer nach einem positiven Umgang mit den eigenen Ängsten sucht oder sich für die Chancen und Fallstricke der Literatur im digitalen Zeitalter interessiert, wird sich dieser Gemeinschaft gerne lesend anschließen.

Olivia Sudjic: Exponiert. August-Verlag, 127 S., br., 12 €, EPUB: 8,99 €.

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