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Von den guten Städten

Berlin und München zeichnen sich als vielfältiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen aus

Im Sommer 2020 ging ein Amateurvideo viral, auf dem zu sehen war, wie ein nackter Mann einem Wildschwein hinterherrannte, das wiederum mit seiner Tasche im Maul flüchtete. In der Tasche befand sich der Laptop des FKK-Badenden. Die Szene spielte sich am Berliner Teufelssee ab, wo die Tiere kaum noch Scheu vor Menschen kennen. In den Außenbezirken suchen sie ihre Nahrung auch schon mal in Privatgärten, Tausende von Wildschweinen dürften in Berlin leben.

»Nach Jahrzehnten, in denen Wildschweine schon frei in Städten leben, erledigt sich eigentlich die Frage, ob sie noch «wilde» oder vielleicht so etwas wie «halb zivilisierte» Schweine sind«, schreibt der Mitbegründer des Forschungsfeldes der Stadtökologie Josef H. Reichholf in seinem neu erschienenen Buch »Stadtnatur«. Doch: Was ist Wildnis, was Zivilisation? Sind Stadt und Natur Gegensätze? Geht die natürliche Lebensweise der Wildschweine in der Stadt verloren, oder ist die Anpassung an neue Lebensräume nicht das, was in der Natur der meisten Tiere liegt?

Von dem Laptopdieb erzählt Zoologe und Ökologe Reichholf in seinen Beobachtungen der Stadtnatur, die er hauptsächlich in München und Berlin gemacht hat, nicht, aber von vielen anderen Tieren, die aus den Städten nicht mehr wegzudenken sind und denen es dort mitunter besser geht als auf dem umgebenden Land.

So sei Berlin unter Ornithologen bekannt als die »Hauptstadt der Nachtigallen«. Beim Nabu ist nachzulesen, dass in der Vergangenheit um die 1500 Nachtigallenreviere in Berlin gezählt wurden. Weit weniger häufig, aber inzwischen etabliert, leben auch Wanderfalken mitten im Stadtzentrum. Am Roten Rathaus fanden sie – ursprünglich für Turmfalken vorgesehene – Brutplätze, in Köln wiederum haben sie den Dom zur Aufzucht ihrer Jungen auserkoren.

In München war bereits in den 1930er Jahren bekannt, dass Starenschwärme zum Schlafen in die Innenstadt flogen, an den Stachus, einen der verkehrsreichsten Plätze der Stadt. Was ihre Gründe waren, inmitten der Stadt zu übernachten, darüber kann nur spekuliert werden. Seit einigen Jahrzehnten kommen die Stare nicht mehr, was damit zusammenhängt, dass die Bestände der Art in Europa stark zurückgegangen sind.

Tiere, die in die Stadt wandern, haben gelernt, dass ihnen dort in der Regel keine Verfolgung durch die Menschen droht, sodass Füchse auch schon mal auf Hollywoodschaukeln ein Nickerchen halten.

Kein Insektenschwund in der Stadt

Nicht nur Vögel und Säugetiere finden in Städten geschützte Nischen und ein teils reichhaltigeres Nahrungsangebot als auf dem Land, auch Nachtfaltern scheint es trotz Lichtverschmutzung zwischen den städtischen Gebäuden besser zu gehen, wie Reichholf darlegt. Die Häufigkeit der nachts fliegenden Falter hat am Rande eines bayerischen Dorfes zwischen 1969 und heute um 80 Prozent abgenommen, mit dem größten Rückgang zwischen Mitte der 80er und der 90er Jahre. Im Münchener Stadtgebiet hingegen zeigte sich bei einer Untersuchung zwischen 1981 und 2010 kein solcher Rückgang. »Das war die Zeit, in der es zur großen Umstellung in der Landwirtschaft nach der Flurbereinigung und durch den Masseneinsatz von Düngestoffen und Pflanzenschutzmitteln hinein in die agrarindustrielle Überschussproduktion kam«, erläutert der Autor.

Den Insektenreichtum der Städte führt er darauf zurück, dass sich dort eine Vielzahl von Lebensräumen findet. Stadtbäume dürfen alt werden und werden nicht wie in den Forsten in einem bestimmten Alter geerntet. Wildkräuter werden nicht totgespritzt und in den Gärten blüht es bis in den Herbst hinein. Auch als invasiv geltende Pflanzen wie der Sommerflieder (Buddleja davidii) erweisen sich als Nahrungsquelle für Schmetterlinge, Bienen und Schwebfliegen. Hier erteilt Reichholf dem Artenschutz, der den eingewanderten Strauch hierzulande am liebsten wieder den Garaus machen würde, einen Seitenhieb.

Vom Insektenreichtum der Städte profitieren wiederum Vögel und Fledermäuse. Als Vorzüge der städtischen Umwelt zählt Stadtökologe Reichholf auch die Strukturvielfalt, die verschiedenste Gebäudetypen bieten, die Gärten, Parks, innerstädtischen Gewässer aber auch das Mikroklima auf. »Das Ergebnis ist eine Biodiversität, die beträchtlich über der ›Normalen‹ für die betreffende Region liegt, sofern Flächen gleicher Größe miteinander verglichen werden. Die Stadt ist als Lebensraum damit etwas Neues, aber nichts grundsätzlich anderes und schon gar nicht ›unnatürlich‹, wie vielfach angenommen oder gegen die Stadt und ihre Entwicklung polemisiert wird.« Und schließlich sei auch die Kulturlandschaft menschengemacht.

Dass Reichholf die Auffassung vertritt, das wärmere Stadtklima begünstige eher die Artenvielfalt, wirkt angesichts aktueller Hitzemeldungen befremdlich. Doch Menschen würden dazu neigen, ihr Leiden unter der Hitze auf die Natur zu übertragen, so der Autor, andere Spezies seien aber besser für höhere Temperaturen gerüstet. Die Körpertemperatur von Vögeln beispielsweise liegt zwischen 40 und 43 Grad Celsius, was sie mit Lufttemperaturen etwas über 30 Grad gut zurechtkommen lässt. Hummeln wird es erst bei über 30 Grad zu heiß. Für die meisten Organismen liege die größere Gefahr nicht in der Hitze, sondern darin, auszutrocknen. Das mag zwar richtig sein, da Hitze und Trockenheit zumeist miteinander einhergehen – den Tieren ist mit dieser Erkenntnis aber wenig geholfen.

Hauptfaktor Landwirtschaft

In Bezug auf die Klimakrise vertrat der Münchner Stadtökologe bereits in der Vergangenheit umstrittene Ansichten, die sich auch in seinem aktuellen Buch wiederfinden: »Die verbreitete Ansicht, die Erwärmung des Klimas würde die Biodiversität gefährden oder verringern, ist in dieser Form nichts weiter als Spekulation oder ungerechtfertigte Verallgemeinerung.« Beispielhaft sei hier die Fülle an Kleinvögeln und Schmetterlingen im Mittelmeerraum genannt. Reichholfs verharmlosender Blick auf die menschengemachte Klimaerwärmung brachte ihm vor Jahren unter anderem die Kritik des renommierten Klimaforschers Stefan Rahmstorf ein.

Die Stärke des Pioniers der Stadtökologie liegt allerdings darin, die für die Tier- und Pflanzenwelt nicht minder gravierenden Auswirkungen der industrialisierten Landwirtschaft mit ihrer allgegenwärtigen Stickstoffüberdüngung in den Fokus zu rücken. Während der Stickstoffeintrag auf Kulturflächen Anfang der 90er bei 100 Kilogramm Reinstickstoff pro Hektar lag, so sind es in großstädtischen Ballungsräumen nur etwa 30 Kilogramm pro Hektar. Diese stammen in erster Linie aus Abgasen von Heizungen und Verkehr.

Immer wieder hebt der Autor die Naturfreundlichkeit der Stadtmenschen hervor und erweckt so fast den Eindruck, als wäre der ländliche Raum nur von Freunden der Jagd besiedelt. Und so kehrt er in gewisser Weise das Bild von der bösen Stadt und dem guten Land um – das er übrigens selbst bemüht, um sich für das Wachstum der Städte ins Umland und gegen deren Nachverdichtung auszusprechen: »Die alte Geschichte wurde in unserer Zeit erneut hervorgeholt: Die böse Stadt frisst das gute Land! Die Städte dürfen nicht weiter wachsen, denn das Land, das gute ›unbebaute‹ ist zu schade dafür, überbaut zu werden.« Doch stattdessen handele es sich oftmals nur um monotone Maisäcker, während in den Städten Erholungsgebiete und Rückzugsgebiete für Pflanzen und Tiere bedroht seien.

Das ist eine interessante Perspektive, greift aber auch zu kurz, da eine Kette von Landnutzungsänderungen die Folge sein kann.

Josef H. Reichholf: Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen.Oekom, 192 S., Hardcover, 24 €.

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