Elektronische Träumer

Als die Maschinen beliebt wurden: Ein Rückblick auf den Synthiepop

  • Simon Reynolds
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Ära des britischen Synthiepop begann im Juni 1979, als die Single »Are ›Friends‹ Electric?« von Tubeway Army zum Nummer-eins-Hit wurde. Bald waren die Charts voll von thin white dudes mit Make-up, die mit einem Finger Melodien auf Korg-Keyboards spielten. Der Sound und die Optik waren stark von David Bowies Berlin-Trilogie und dessen Rolle als gestrandeter Alien in »Der Mann, der vom Himmel fiel« beeinflusst. Man füge dann ein wenig von der Atmosphäre Europas zwischen den Weltkriegen hinzu, und schon hat man das Rezept für »Fade to Grey« und »The Damned Don’t Cry« von Visage, »Nightporter« und »Ghosts« von Japan, »Vienna« von Ultravox und auch für den Rest der Szene, deren Anhänger*innen (verwirrenderweise) gleichzeitig als Futuristen und New Romantics galten. Bowie selbst steuerte die melancholische Synthesizer-Nummer »Ashes to Ashes« bei. Die Nachhut bildete die Band, die das ganze Mitteleuropa-/Mensch-Maschine-Ding überhaupt erst erfunden hatte: Im Februar 1982 landeten Kraftwerk einen Nummer-eins-Hit mit der englischen Version ihres 1978er-Songs »Das Model«.

Die Geschichte des Synthesizers im Pop reicht allerdings weiter zurück als bis zur androiden Melancholie von Gary Numan. Man findet Vorläufer in den psychedelischen 60ern, als US-amerikanische Bands wie Silver Apples, 50 Foot Hose und The United States of America ihre Gitarren gegen Oszillatoren eintauschten. George Harrison veröffentlichte 1969 »Electronic Sound«, ein ganzes Album mit Moog-Skizzen. Die deutschen Kosmosrocker Tangerine Dream bündelten die Erhabenheit ihrer Pink-Floyd-Nachahmung nach und nach in einem minimalistischen, düster pulsierenden, komplett elektronischen Sound. Pink Floyd selbst wagten sich auf »The Dark Side of the Moon« mit »On the Run«, dessen wabernder Sound Acid House vorwegnahm, in Synthie-Rock-Gefilde vor. Andere Progrocker wie Keith Emerson (Emerson, Lake Palmer) und Rick Wakeman (Yes) standen bei Liveauftritten hinter einer Wand aus elektronischen Keyboards, mit denen sie arpeggierte Variationen auf ihr Publikum losließen, deren Bombast Johann Sebastian Bach zugesagt hätte.

Elektronische Töne, die nicht von dieser Welt zu sein schienen, gab es im Fernsehen zu hören, etwa in Sci-Fi-Serien wie »Doctor Who« und »The Tomorrow People«, oder auch in dystopischen Kinofilmen wie »Uhrwerk Orange«, »Andromeda« und »Flucht ins 23. Jahrhundert«. Auch unter schwarzen Musiker*innen fanden sich Visionär*innen, die von den außerweltlichen Klangwelten des Synthesizers begeistert waren, ob im Fusion-Jazz (Herbie Hancock, Weather Report) oder im Funk (Stevie Wonder, Funkadelic). Diese frühreifen Knöpfchendreher verband eine bestimmte, den progressiven Freaks und Hippies nahestehende Mentalität: Sie liebten Synthesizer, weil diese so abgefahrene Geräusche erzeugten, also kannten sie in ihren langgezogenen Soli kein Halten mehr oder produzierten abstrakte Wände aus Lärm. Niemand von ihnen kam auch nur in die Nähe der Charts. Auf gewisse Weise ist das entscheidende Wort in »Synthiepop« nicht »Synthie«, sondern »Pop«.

Die Musik der britischen Bands, die zu Beginn der 80er die Charts eroberten, war catchy und prägnant. Hier orientierten sie sich an Kraftwerk, die nicht nur die ersten waren, die aus dem elektronischen Zeitalter ein komplettes Konzept mitsamt Weltanschauung gebastelt hatten, sondern auch hervorragende Songs schrieben. Es ist nur richtig, dass die lang erwarteten Kraftwerk-Remasters zur gleichen Zeit erschienen sind wie die der Beatles, denn Hütter & Co. stehen den Fab Four in nichts nach, sowohl was ihren umwälzenden Einfluss auf den Pop als auch ihre melodische Genialität angeht. Ebenso inspirierend war die strenge Eleganz von Kraftwerk: Deren grauen Anzüge und kurzen Haare stachen in einer Zeit der Jeans, Bärte und zerzausten Haare hervor und kündigten eine europäische Zukunft des Pop an, ein entscheidender Bruch mit den USA und dem Rock ’n’ Roll.

Ein vielleicht noch stärkeres Vorzeichen dürfte Giorgio Moroders Euro Disco dargestellt haben, deren extrem präzise Sequenzer und eisig erotische Elektronik eine Verbindung zwischen Synthesizern und dem Dancefloor herstellten – im Gegensatz zur Musik im Stil von Tangerine Dream/Klaus Schulze, die man eher mit Kiffen und Rumhängen auf dem Sofa assoziierte. Donna Summers von Moroder produziertes »I Feel Love« und Kraftwerks »Trans Europa Express« teilten die Zeit der Popwelt so einschneidend in ein Davor und ein Danach wie »Anarchy in the U. K.«. Obwohl beide Tracks 1977 veröffentlicht wurden, markieren sie den Beginn der 80er. Diese Singles erschienen zu einer Zeit, als Synthesizer wesentlich erschwinglicher, mobiler und benutzerfreundlicher wurden.

Wie in der Doku »Synth Britannia« von BBC 4 erläutert (die es auf Youtube gibt und in der ich auch vorkomme), wurde das, was einst so viel kostete wie ein kleines Haus (und daher den Prog-Superstars vorbehalten blieb), zu etwas, das man für ein paar hundert Pfund kaufen konnte, oder sogar noch billiger, wenn man einen Bausatz für einen eigenen Synthesizer per Post bestellte und bereit war, Wochen damit zu verbringen, das verdammte Ding zusammenzubauen. Bands, die sich von der konfrontativen Rhetorik und den künstlerischen Provokationen des Punk inspiriert fühlten, denen der Sound von Punkrock aber zu nah an alten Rock-’n’-Roll-Mustern war, betrachteten diese günstigen Synthesizer als den eigentlichen Beginn des Do-it-yourself-Ethos.

Synthiepop durchlief zwei Phasen, die sich merklich voneinander unterschieden. In der ersten ging es um die Entmenschlichung. Das heißt nicht, dass die Musik emotionslos war (der Standardvorwurf synthiephober Rocker*innen), sondern dass die Emotionen trostlos waren: Isolation, urbane Anomie, ein Gefühl von Kälte und Leere, Paranoia. Im Post-Punk-Underground traf das auf Cabaret Voltaire und Throbbing Gristle zu, die ironischerweise beide Gitarren einsetzten, diese aber mit elektronischen Effekten stark bearbeiteten. Die Vertreter dieser Phase im Mainstream hießen John Foxx und Gary Numan. Auch Numan nutzte auf seinen frühen Hits unter dem Namen Tubeway Army Gitarren. Das Geheimnis seines Erfolgs war, dass seine Musik, trotz all ihrer majestätischen Synthesizer, rockte. Selbst als er mit »Cars« komplett auf Elektronik umstellte, behielt er seinen Schlagzeuger aus Fleisch und Blut.

Die zweite Phase war eine Gegenreaktion auf die erste. Nun standen elektronische Sounds für Optimismus und die Gemeinschaft auf dem Dancefloor. Sie klangen nach einer in unmittelbarer Reichweite liegenden, strahlenden, sauberen Zukunft statt nach den trostlosen 70er-Stadtlandschaften von J. G. Ballard. Und die Themen, die in den Songs verhandelt wurden, stellten zum großen Teil eine Rückkehr in traditionelles Pop-Territorium dar: Liebe und Romantik, Eskapismus und Sehnsucht. Die Hauptverantwortlichen für diese Rehumanisierung des Synthiepop hießen passenderweise The Human League (ein Blick auf ihre Songtitel genügt: »Open Your Heart«, »Love Action«, »The Things That Dreams Are Made Of«). Soft Cell spielten mit ihren Songs über glühende Leidenschaft und verruchten Glamour auch eine wichtige Rolle. Ihre Besetzung – bestehend aus der männlichen Diva Marc Almond und dem Keyboardmagier
David Ball – definierte den Maßstab für die erste Hälfte der 80er.

Die neuen kompakten Synthesizer glichen einem Orchester in einer Box: Man brauchte keine ganze Band aus individuellen Instrumentalisten mehr. Plötzlich wimmelte es im Pop vor Duos mit strikter Arbeitsaufteilung zwischen Komponist*in/Technik-Expert*in und Sänger*in/Texter*in: Eurythmics, Yazoo, Tears for Fears, Blancmange, Pet Shop Boys. Die Rockband als Gang wurde abgeschafft und ersetzt durch gleichgeschlechtliche »Pärchen« oder eine Partnerschaft zwischen einer weiblichen Diva und einem männlichen Technikexperten. Yazoo waren ein klassisches Beispiel dieser Kombination von Feuer und Eis: der Joss Stone vorwegnehmende Soul-Gesang von Alison Moyet ergänzt um die lebensfrohe Art von Vince Clarke.

Clarke war zuvor der kreative Kopf von Depeche Mode gewesen, oder zumindest dachte man das. Doch während Clarke unter Namen wie The Assembly und Erasure eine Reihe kultureller Verbrechen beging, waren es Depeche Mode, die sich unerwartet zu Stars entwickelten und für die musikalisch ausgefeilten, politisch engagierten und wütenden Alben »Construction Time Again« und »Some Great Reward« schmalzige Liedchen à la »Just Can’t Get Enough« hinter sich ließen. Der Hit »Everything Counts« fing den melancholischen Moment nach der Wiederwahl Margaret Thatchers ein, während »Master and Servant« – ganz nach dem Motto »Das Persönliche ist politisch« – eine von Sadomaso inspirierte Allegorie der Macht mit einer Pop-Übersetzung des Metallgehämmers von Einstürzende Neubauten und Test Dept kombinierte. Am besten war das unheimliche »Blasphemous Rumours«, eine Stichelei gegen den Allmächtigen, die feststellte: »God’s got a sick sense of humor.«

Ein Motiv in »Synth Britannia«, das Daniel Miller, der Gründer des Depeche-Mode-Plattenlabels Mute, immer wieder artikuliert hat, ist die Vorstellung, dass elektronische Musik im Grunde unbritisch sei. Eigentlich aber waren die Vereinigten Staaten das wahre Königreich der Synthiephobie. Das bedeutete aber auch, dass amerikanische Außenseiter*innen sich leicht abgrenzen konnten, indem sie den »schwuchteligen« Electropop aus England den gängigen Lieblingsbands ihrer Mitschüler*innen, wie etwa Mötley Crüe, vorzogen. Als Depeche Mode sich als überraschend mitreißender Arena-Act erwiesen, wuchs ihre Anhängerschaft in den Staaten beträchtlich. 1988 spielten sie im Pasadena Rose Bowl vor 70 000 Menschen. In Mittel- und Osteuropa waren sie noch größer, in Deutschland erreichten sie fast den Popularitätsgrad der Beatles.

Wenn man sich »Synth Britannia« anschaut, fällt auf, dass das Futuristische dieser Musik für uns weitgehend unverständlich ist, gerade weil wir in der Zukunft leben, zu deren Entstehung die Synthiepop-Ära beigetragen hat. Dank 90er-Techno und 2000er-R & B sowie Videospielen und Klingeltönen sind elektronische Töne so omnipräsent, dass sie schon wieder banal geworden sind. Anfang der 80er war »Electro« cutting edge, die im Jetzt erfahrbare Zukunft. Heutzutage sind damit die Sounds gemeint, die die vergangene Dekade über in den Hipster-Bars von Hoxton erklangen, ehe sie 2009 durch La Roux und Lady Gaga unerwartet Mainstream wurden, das heißt synthetischer Pop, der nicht auf dem neuesten Stand der Technik ist und deshalb fast so kurios ist, als würde er auf einem Cembalo gespielt.

Ohne den Futurismus ist nur noch das »Pop« aus Synthiepop übrig geblieben: die schönen Songs von OMD , die Wehmut von Numan und Human League. Seltsamerweise hat diese Musik ihre Zeit deshalb überdauert, weil sie die Elemente kultivierte, die auch die Beatles und Motown unsterblich gemacht haben: Melodie und Emotion.

Leicht gekürzter Vorabdruck aus »Futuromania«, dem neuen Buch von Simon Reynolds über »Elektronische Träume von der Zukunft« in der Popmusik. Siehe die Rezension auf dieser Seite. Mit freundlicher Genehmigung des Ventil-Verlags.

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