Berliner Wohnungsmarkt: Lebenszeichen vom Vorkaufsrecht

Neukölln will Investoren nach langer Pause wieder ausbooten

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Mieter*innen der Weichselstraße 52 wollen um ihr Haus kämpfen.
Die Mieter*innen der Weichselstraße 52 wollen um ihr Haus kämpfen.

»Wir wissen alle nicht, was wir hier tun. Wir haben Angst, dass wir hier ausziehen müssen«, sagt die Mieterin. Denn das Haus, in dem sie wohnt, ist verkauft worden an eine Eigentümergruppe. Es handelt sich um die beiden Geschäftsführenden der Hansereal-Gruppe sowie eine weitere Person. Eine Konstellation, die bei Mieterinnen und Mietern in Berlin für Unruhe sorgt. Denn das Geschäftsmodell ist die klassische spekulative Immobilienverwertung, also Aufteilung und der steuerfreie Verkauf als Eigentumswohnungen nach Ablauf der zehnjährigen Spekulationsfrist.

Doch die Bewohnerschaft der Neuköllner Weichselstraße 52, auf halbem Weg zwischen Landwehrkanal und Sonnenallee gelegen, könnte dem Hamsterrad der Verdrängung entgehen. Denn das Bezirksamt Neukölln hat beschlossen, das Vorkaufsrecht für das im Milieuschutzgebiet gelegene Ensemble auszuüben. Das ist eine mittlere Sensation, denn seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im November 2021 ist das nicht mehr geschehen. Nur noch bei deutlichen städtebaulichen Missständen kann demnach das Vorkaufsrecht noch angewendet werden. Der Bezirk sieht das in diesem Fall als gegeben an, bei einem weiteren Haus läuft die Prüfung.

Vorderhaus und Hinterhaus, zwei Gewerbeeinheiten, 21 Wohnungen, in denen rund 50 Menschen leben – das ist das Haus Weichselstraße 52. Die Nettokaltmieten liegen um sechs Euro je Quadratmeter, dort lebt die typische Neuköllner Mischung. Fast alle haben ein geringes Einkommen und können sich bereits jetzt ihre Unterkunft eher gerade so als locker leisten. Ein Wohnungsverlust wäre eine Katastrophe für sie. »Wir würden doch keine Wohnung finden«, sagt die Mieterin, deren Name »nd« bekannt ist.

Deswegen rotieren die dort lebenden Menschen, denn sie müssen in kurzer Zeit einiges schaffen. Ihren Fall bekannt machen, politischen Druck aufbauen. Und vor allem: einen alternativen Käufer finden, beispielsweise eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft oder eine Genossenschaft. Fast jeden Tag gibt es ein Treffen, Arbeitsgruppen formieren sich, Strategien und Fakten werden besprochen. Eine psychische Ausnahmesituation, denn der Treiber ist die Angst, das Dach über dem Kopf zu verlieren.

Immerhin liegt der Preis des Hauses nach Informationen von »nd« deutlich unter jenen, die in den letzten Jahren für vergleichbare Liegenschaften aufgerufen worden sind. Deutlich gestiegene Zinsen haben die Immobilienpreise sinken lassen. Wegen der nun forcierten Energiewende lassen sich Gebäude wie dieses mit schlechten energetischen Werten oft nur noch mit hohen Abschlägen von 500 bis 1000 Euro pro Quadratmeter verkaufen.

Die Hansereal nutzt die Lage für eine Einkaufstour in Berlin. Regelmäßig meldet sie per Pressemitteilung neue Ankäufe, zuletzt im Juni. »Trotz der schwierigen Zeiten auf dem Immobilienmarkt freuen wir uns, dass sich immer mehr Verkäufer an die neuen Gegebenheiten anpassen. Dies ermöglicht es uns, auch in diesem Jahr zu investieren und unser Portfolio weiter auszubauen«, lässt sich Thomas Anton, geschäftsführender Gesellschafter der Hansereal-Gruppe, zitieren und betont »die Anpassungsfähigkeit der Marktteilnehmer«.

»Wir haben uns auf Einladung der Mieter*innen das Haus und die Wohnungen angeschaut«, sagt der Neuköllner Stadtentwicklungsstadtrat Jochen Biedermann (Grüne) zu »nd«. »Wir können das Vorkaufsrecht nur deswegen prüfen, weil wir einen schlechten baulichen Zustand und städtebaulichen Zustand haben.«

Dabei wird dem eigentlichen Käufer zunächst eine sogenannte Abwendungsvereinbarung vorgelegt, die in diesem Fall unter anderem Auflagen für eine zügige Behebung der Missstände enthält. Akzeptiert der ursprüngliche Käufer die Auflagen nicht, kann das Vorkaufsrecht zugunsten eines Dritten ausgeübt werden. Aber nur, wenn sich einer findet, der unter den Bedingungen der Abwendung das Haus erwerben will. Nicht mal mehr drei Monate Zeit bleiben dafür noch.

»Wir gehen davon aus, dass Zuschüsse nötig werden«, sagt Biedermann. Für einen potenziellen Käufer sei es schwierig einzuschätzen, wie hoch der Investitionsbedarf ausfällt, wenn ihm keine gutachterliche Bewertung vorliege. Bei den Zuschüssen ist der Bezirk auf den Senat angewiesen, unter anderem auf Bausenator Christian Gaebler (SPD) und Finanzsenator Stefan Ebers (CDU). »Christian Gaebler unterstützt das im Grunde nach. Ich erwarte mir von der Landesebene eine klare Unterstützung dieses Verfahrens, das wir entwickelt und mit der Senatsbauverwaltung abgestimmt haben«, so Biedermann. Er erhofft sich »die Rückendeckung, wie wir sie in der Vergangenheit hatten«, auch was mögliche Rechtsstreitigkeiten betreffe.

Mit dem Pilotverfahren soll auch ein Zeichen für die Wiederherstellung des bis 2021 praktizierten Vorkaufsrechts gesetzt werden. »Auf Bundesebene ist die Forderung klar: Wir brauchen schnell wieder mindestens den Status quo«, sagt Jochen Biedermann. »Ich hoffe, dass sie endlich mal aus dem Knick kommen und würde mir auf Bundesebene wünschen, dass die SPD diesen Kampf führt. Aus meiner Sicht ist es ein eindeutig sozialdemokratisches Thema«, so der Grünen-Politiker.

Bis zu dem folgenreichen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts 2021 (09.11.2021 – 4 C 1.20) hatten sich Vorkäufe und Abwendungen seit 2015 in Berlin fast schon zu einem Massengeschäft entwickelt. Durchschnittlich über 100 Immobilienverkäufe sind laut dem jährlichen Bericht der Bauverwaltung dazu in Berlin bis 2021 pro Jahr auf Anwendung geprüft worden. Im Jahr 2022 waren es berlinweit gerade einmal neun Fälle, einer davon in Neukölln. Nach alter Rechtslage hätte laut Stadtrat Jochen Biedermann allein sein Bezirk von November 2021 bis jetzt rund 100 Transaktionen geprüft.

Erweiterter Schutz von Mieterinnen und Mietern vor Verdrängung durch Abwendungsvereinbarungen ist berlinweit im Jahr 2020 für 4061 und 2021 für 2350 Wohnungen erreicht worden. 2022 gelang das noch für gerade einmal 45 Wohnungen.

Und obwohl eine Reparatur des gemeindlichen Vorkaufsrechts sogar im Koalitionsvertrag auf Bundesebene zwischen SPD, Grünen und FDP vereinbart ist, heißt es in der kürzlich veröffentlichten 18-Monats-Bilanz von Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) lapidar: »Abstimmungen in der Bundesregierung laufen«.

»Ein klar in den Koalitionsverhandlungen vereinbartes Ziel wird hintangestellt, um Verhandlungsmasse zu haben«, empört sich Sebastian Bartels, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins. »Unter vier Augen wird kommuniziert, dass FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann das Vorkaufsrecht als Faustpfand nimmt, um die Pläne der SPD zur Vorratsdatenspeicherung zu beeinflussen«, so Bartels zu »nd«. Das sei bedenklich, da es sich um ein vereinbartes Vorhaben handele. »Es ist nichts Radikales, sondern eine Gesetzesreparatur«, unterstreicht er.

Das Vorkaufsrecht kann Situationen verhindern, wie sie derzeit Mieterinnen und Mieter von drei Häusern in Friedrichshain erleben. Alle Wohnungen der drei aufgeteilten Häuser Liebigstraße 14 und Rigaer Straße 95 und 96 sollen verkauft werden. Die Verkäufer sind bereit, das Paket an gemeinwohlorientierte Käufer zu vergeben, allerdings für rund 3600 Euro pro Quadratmeter – utopisch für bezahlbare Mieten auch angesichts des Sanierungsbedarfs. Gegenüber der »Taz« erklärte das Unternehmen Hansereal, das für den Verkäufer gehalten wurde, dass die Häuser mittlerweile Privatpersonen gehörten. Das Geschäftsmodell ist jedenfalls dasselbe.

Finden die Bewohnerinnen und Bewohner der Neuköllner Weichselstraße 52 einen alternativen Käufer, könnten sie dieser Form der Verwertung entgehen. Es sind aufreibende Wochen für sie. Das Vorkaufsrecht kann Verdrängung verhindern, die Koalition im Bund könnte leicht wieder mehr Menschen diese Chance bieten.

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