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Justizreform in Israel: Regierungswechsel als letzte Hoffnung
Die Knesset soll am Montag über einen entscheidenden Teil des Justizumbaus in Israel entscheiden
Die 30. Woche des Jahres 2023 hat begonnen. 30 Wochen, in denen Israel scharfen Widerstand gegen die Politik der Regierung erlebt hat, in denen Hunderttausende Wind, Wetter und Sommerhitze trotzen, um gegen Benjamin Netanjahu und sein rechtsradikales Kabinett auf die Straße zu gehen. Wie enorm die Proteste sind, zeigt sich, als am Wochenende ein Protestmarsch in Jerusalem ankommt: Tage zuvor waren einige hundert Menschen in Tel Aviv gestartet, um zu Fuß die rund 70 Kilometer nach Jerusalem zurückzulegen. Am Ende kommen rund 70 000 Menschen dort an, während in Tel Aviv weitere 170 000 Menschen gegen den Umbau der Justiz durch die Regierung protestieren. Am Sonntag bilden dann Tausende eine gut vier Kilometer lange Menschenkette von der Klagemauer in Ost-Jerusalem bis zur Knesset in West-Jerusalem.
Dort, im israelischen Parlament, bereiten die Mitarbeiter*innen alles vor für den Endspurt im umstrittensten Gesetzgebungsverfahren der israelischen Geschichte. Und für die längste Ausschusssitzung, die es je im Land gegeben hat: 26 Stunden lang wird sich der Verfassungs- und Rechtsausschuss mit 27 000 Einwänden gegen das Gesetzgebungsverfahren befassen; nur über 140 davon soll abgestimmt werden. Über welche? Das entscheidet die Opposition. In der man kämpferisch-resigniert ist: »Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass wir noch irgendetwas am Gesetzesentwurf geändert bekommen«, sagt eine Mitarbeiterin von Jair Lapid, dem Chef der zentristischen Zukunftspartei und bis November vergangenen Jahres für kurze Zeit Regierungschef: »Worauf es jetzt ankommt, ist, dass die Regierung sobald wie möglich stürzt, wir eine stabile Koalition bilden und dann alles wieder rückgängig machen.«
Denn nun geht es erst einmal um einen Teil des Vorhabens, das die Regierung euphemistisch als Reform der Justiz beschreibt: Die sogenannte »Verhältnismäßigkeitsregel«. Sie steht in keinem Gesetz, sondern beruht allein auf der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. In Israel ist das möglich, weil die Rechtsprechung nicht nur auf geschriebenen Gesetzen beruht, sondern auch auf der Auslegung der Gesetze durch die Obersten Richter. Ähnliches existiert auch in angelsächsischen Ländern. Nach dieser Regel kann der Oberste Gerichtshof Entscheidungen der Regierung als unangemessen und damit als unzulässig einstufen.
40 Jahre lang hat das auch jede Regierung, egal ob rechts oder links, akzeptiert. »In einer ständigen Bedrohungssituation werden in der Regierung auch Möglichkeiten aufgeworfen, die man normalerweise nicht tun würde, aber in der Krise für denkbar hält«, sagt der ehemalige Außenminister Silwan Schalom, Mitglied des rechtskonservativen Likud: »Dass der Oberste Gerichtshof über einem steht, hält davon ab, Dinge zu tun, die man später bereuen würde.«
Doch dann kam Arje Deri, Vorsitzender der ultraorthodoxen Schas-Partei. Im Jahr 2000 war er zu vier Jahren Haft wegen Korruption verurteilt worden. Ende 2021 wurde er dann wegen Steuerhinterziehung angeklagt. Die Anklage wurde gegen Zahlung einer Geldstrafe fallen gelassen. Normalerweise wäre dem eine weitere Anklage wegen »moralischer Verwerflichkeit« gefolgt und Deri wahrscheinlich für sieben Jahre vom Ausüben öffentlicher Ämter ausgeschlossen worden. Doch Deri trat aus dem Parlament zurück – und war nach der Neuwahl im Dezember vergangenen Jahres plötzlich wieder da: als Minister in der Regierung. Das wiederum rief den Obersten Gerichtshof auf den Plan, der die Ernennung für unzulässig erklärte. Damit landete die Verhältnismäßigkeitsregel auf dem Radar der Koalition aus Likud, zwei ultraorthodoxen Parteien und dem rechtsradikalen Parteienbündnis »Religiöser Zionismus«.
Auch deshalb haftet der Justizreform bei einem Großteil der Öffentlichkeit der Ruch der gesetzlich festgeschriebenen Korruption an. Regierungschef Benjamin Netanjahu, der selber wegen Korruption vor Gericht steht, hat im Parlament nur noch wenige potenzielle Verbündete. Außer seinen derzeitigen Koalitionspartnern haben alle anderen Parteien eine Zusammenarbeit ausgeschlossen – wegen seiner Korruptionsprozesse, aber auch, weil er immer allen alles verspricht und dann nichts davon hält.
In Gesprächen mit jenen, die seit vielen Wochen demonstrieren, wird immer wieder die feste Ansicht zum Ausdruck gebracht, dass diese Reform nur auf den Weg gebracht wurde, um Netanjahu die Möglichkeit zu geben, Deri zurück ins Amt zu bringen und seine eigenen Prozesse zu beenden.
Natürlich bestreiten alle Koalitionsparteien das vehement. Aber es ist schon auffällig, dass die Verhältnismäßigkeitsregel ausgerechnet jetzt abgeschafft werden soll, wo Netanjahu Deri dringend braucht. Und es ist auch auffällig, dass viele weitere Reformpläne genau auf Netanjahus juristische Bedürfnisse zugeschnitten zu sein scheinen. So soll die Parlamentsmehrheit künftig sehr viel größeren Einfluss auf die Ernennung von Richter*innen und Staatsanwält*innen haben.
Viele derjenigen, die nun auf die Straße gehen, sehen das alles als großen Schritt in Richtung Diktatur. Die Befürworter*innen der sogenannten Reform in der Gesellschaft hingegen werten die Reform als Befreiungsschlag: Man wähle immer rechts und bekomme trotzdem linke Urteile, lautet dort der häufig geäußerte Vorwurf. Das macht man vor allem am Siedlungsbau fest. Denn sehr gerne würde man ungenehmigte Siedlungsaußenposten legalisiert und auch sonst freie Hand haben. Doch der Oberste Gerichtshof schreitet immer wieder ein, sei es auf Grundlage der Verhältnismäßigkeitsregel oder unter Verweis auf geschriebene Gesetze.
In den vergangenen 20 Jahren haben sich Jurist*innen, die der Siedlerbewegung nahestehen, mit einer Vielzahl von eigenen Rechtsauslegungen zu Wort gemeldet, die fundamental von der Rechtssicht der meisten anderen israelischen Jurist*innen abweichen und stets darauf hinauslaufen, dass die palästinensischen Gebiete tatsächlich gar nicht besetzt seien und der Siedlungsbau dementsprechend auch nach internationalem Recht zulässig sei. Hätte man solche Leute im Obersten Gerichtshof sitzen, so die Denkweise, dann hätte man freie Hand.
Gleichzeitig verweisen die Befürworter*innen auch immer wieder auf die Mehrheit im Parlament: Es sei undemokratisch, wenn ungewählte Richter*innen eine gewählte Regierung einschränken dürfen. Doch die Parlamentsmehrheit entspricht eben nicht der öffentlichen Mehrheit: Nicht alle haben gewählt. Und wegen der 3,25-Prozent-Hürde verfallen viele Stimmen. Unter dem Strich hat die aktuelle Regierung weniger als 40 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich.
Und das zeigt sich nun auf den Straßen. Ab und zu gehen auch die Befürworter*innen auf die Straße, um die Reform-Gegner*innen als Verbreiter*innen von Chaos zu beschreien und sich selbst als die wahren Demokrat*innen zu präsentieren. Doch es sind stets nur ein paar Zehntausend, die da zusammenkommen. Normalerweise wäre das in Israel eine enorme Zahl. Doch im Angesicht der 30-wöchigen Massenproteste wirkt sie klein und schmächtig.
Die Proteste haben nun auch die Sicherheitsdienste erreicht. Am Sonntag sorgte ein Gastbeitrag in der Zeitung »Jediot Achanorot« für Erstaunen. Denn der Autor ist Jossi Cohen, der von 2016 bis 2021 Chef des Auslandsgeheimdienstes Mossad war. Normalerweise hält man sich dort aus öffentlichen Diskussionen und politischen Debatten heraus. Nun ruft Cohen dazu auf, den Justizumbau zu stoppen. Absolut undenkbar, dass er das nicht mit dem Mossad abgesprochen hat.
Es ist ein Zeichen dafür, dass die Geheimdienste die Entwicklungen mittlerweile als Bedrohung für die Sicherheit Israels sehen. Mindestens 10 000 Reservist*innen, davon gut 1200 Angehörige der Luftwaffe, haben angekündigt, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen. Und Generalstabschef Herzi Halevi verweigert sich den Forderungen der Regierung, die Verweigerer*innen mit Sanktionen zu belegen. Stattdessen schrieb er einen Brief mit der freundlichen Bitte, doch wieder zum Dienst zu erscheinen. Das Schreiben wirkt, als sei es eher an die Regierung gerichtet.
In Hintergrundgesprächen fragen Mitarbeiter*innen der Oppositionsparteien derweil, was es braucht, bis die ersten Abgeordneten des Likud aussteigen. Denn früher war die Partei mal ideologisch irgendwo zwischen CDU und FDP angesiedelt. Nun scheinen die Abgeordneten resistent gegen sämtliche Signale aus der Öffentlichkeit und von ihrer eigenen Wählerschaft zu sein: Bei den Protesten sind auch viele dabei, die sich als einstige Stammwähler*innen des Likud betrachten.
In keiner Umfrage hat die Koalition mehr eine Mehrheit. Bis zu zehn Sitze könnte der Likud verlieren. Das rechtsradikale Bündnis »Religiöser Zionismus« würde vier Mandate einbüßen. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Umfrageergebnisse auf der Grundlage der durchschnittlichen Wahlbeteiligung der vergangenen Jahre berechnet werden. Mehrere Meinungsforschungsinstitute halten es für denkbar, dass die Wahlbeteiligung unter dem Eindruck der Proteste um bis zu zehn Prozent steigen könnte. Und damit würden sich die Mehrheitsverhältnisse noch weiter von der Koalition weg verschieben. Zudem werden auch in diesem Jahr mehr als 100 000 Jugendliche zu Wahlberechtigten, die nun unter dem Eindruck der Proteste erwachsen werden: genug für drei Sitze.
Am Sonntagnachmittag schalteten sich auch der Gewerkschaftsdachverband Histadrut und die Unternehmerverbände ein: Sollte das Gesetzgebungsverfahren nicht bis um 16 Uhr Ortszeit gestoppt worden sein, werde es zum Generalstreik kommen. Ex-Premier Jair Lapid erklärte gleichzeitig Gesprächsbereitschaft: »Es ist unsere Aufgabe, alles zu tun, um diesen Wahnsinn zu beenden und Vereinbarungen zu schließen.« Doch danach sieht es nicht aus: Kompromissvorschläge gibt es nicht, frühere Verhandlungen sind gescheitert, denn Schas und die Religiösen Zionist*innen lehnen selbst kleinste Zugeständnisse ab. Die Unternehmerverbände warnen zudem vor schwerem wirtschaftlichem Schaden: Schon jetzt hätten ausländische Investor*innen ihre Projekte gestoppt.
Doch sollte Netanjahu das Gesetzgebungsverfahren auf Eis legen, würde ihn das den Job kosten. Und so macht er weiter, selbst wenn dies bedeutet, dass viele seiner Parteifreunde nach der nächsten Wahl nicht mehr im Parlament sitzen.
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