Andrea Komlosy: Staatskapitalismus statt Weltuntergang

Die österreichische Historikerin Andrea Komlosy sieht uns mit einem »kybernetischen Umbruch« konfrontiert, der durch die Pandemie um ein Vielfaches beschleunigt wurde

  • Lena Böllinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Auch die transhumanistische Vision vom »neuen Menschen« ist laut Komlosy ein Bestandteil des kybernetischen Kapitalismus.
Auch die transhumanistische Vision vom »neuen Menschen« ist laut Komlosy ein Bestandteil des kybernetischen Kapitalismus.

Apokalypsen sind angesagt, eine Katastrophe jagt die nächste: Auf die Pandemie folgte der Krieg in der Ukraine, und über allem lauert die Dauerbedrohung des prognostizierten Klimakollaps. Nicht nur Greta Thunberg hält da Panik für eine angemessene, gar wünschenswerte Reaktion. Mit der Angst wird Politik gemacht.

Doch selbst wenn es dabei um die moralisch einwandfreie Rettung der Welt geht, wirkt eine solche Politik antiemanzipatorisch. Denn die alarmistische Dringlichkeit verstellt den Blick auf die Ursachen der jeweiligen Krisen. Mehr noch: Wenn es schnell gehen muss und »keine Zeit« mehr für eine gesellschaftliche oder auch nur parlamentarische Diskussion bleibt und die zu ergreifenden Maßnahmen im jeweiligen »Ausnahmezustand« also alternativlos verordnet werden, bleibt von einer lebendigen, emanzipatorischen Politik nur noch ein technokratischer, autoritärer Rest. So wird der Weltuntergang allenfalls effizient verwaltet.

Trotzdem fällt auch der Linken oft nicht viel mehr ein, als auf apokalyptische Erzählungen zurückzugreifen, um sich damit irgendwie wieder gesellschaftlich Gehör zu verschaffen. Offensichtlich wird es immer einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Was aber, wenn gegenwärtig weder das eine noch das andere zutrifft? Was, wenn weder der Kapitalismus kollabiert noch die Welt untergeht – in was für einer Zukunft leben wir dann?

Dieser Frage geht die emeritierte Wiener Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Andrea Komlosy in ihrem Buch »Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft« nach. Anders als der Zeitgeist es gebietet, verfällt sie nicht in Panik, sondern konzentriert sich auf eine nüchterne, polit-ökonomische Analyse der Gegenwart. Die Pandemie dient ihr als Ausgangspunkt, um eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation zu beschreiben – nämlich den Umbruch vom industriellen zum kybernetischen Kapitalismus. Zugleich erklärt dieser Umbruch aus ihrer Sicht aber auch die eigenartigen politischen und ökonomischen Reaktionen auf die Pandemie.

Kybernetik bedeutet »Kunst des Steuerns«. Gemeint ist eine Gesellschaft, die in all ihren Bereichen durch Künstliche Intelligenz, smarte Umgebungen und Mensch-Maschinen-Konstrukte algorithmisch »gesteuert« wird. Diese kybernetische Datenwirtschaft könnte, so Komlosy, dem Kapitalismus zu einem neuen Konjunkturzyklus verhelfen – was dringend nötig wäre, denn seit den 70er Jahren strauchelt der Kapitalismus von Krise zu Krise. Seit 2008 befindet sich die Weltwirtschaft in einer Rezession. Komlosy prognostiziert einen Aufschwung mit der Medizin- und Pharmaindustrie als neuer Leitbranche. Nano-, Bio- sowie Informations- und Kommunikationstechnologien fungieren als neue Leittechnologien.

Der kybernetische Umbruch ist allerdings weit mehr als ein neuer Wachstumszyklus. Komlosy spricht von einem »menschheitsgeschichtlichen Übergang«, vergleichbar mit den »großen Produktionsrevolutionen, die die Menschheit durchlaufen hat«: vom Jagen und Sammeln über Ackerbau und Gewerbe, Handel und Industrie bis zur heutigen »wissenschaftlich-technischen Kybernetik«, die in den 50er Jahren begann.

Das Besondere am kybernetischen Kapitalismus ist, dass er nicht nur die bezahlte und unbezahlte Arbeitskraft ausbeutet, sondern vor allem über die »Aneignung der Erfahrung und der Körper der UserInnen« operiert. In der kybernetischen Gesellschaft sind wir alle mit smarten Umgebungen und digitalen Endgeräten verbunden und werden so zu ständigen Datenlieferant*innen. Dabei geben wir – nicht immer freiwillig – Auskunft über unsere persönlichen Bedürfnis-, Konsum- und generellen Verhaltensmuster. Diese werden wiederum mit maßgeschneiderten Produkten beantwortet. Es geht dabei also um weit mehr als um zielgenaue Werbung: Die permanente Optimierung der personalisierten Produktion reicht bis zur transhumanistischen Vision vom »neuen Menschen« mit optimierten genetischen, psychologischen und körperlichen Eigenschaften.

Die Pandemie interpretiert Komlosy vor diesem Hintergrund als »Gelegenheitsfenster«, um dieser kybernetischen Transformation zum beschleunigten Durchbruch zu verhelfen. Das Pandemiemanagement habe sowohl mit seinen gezielten Investitionspaketen für Digitalisierungsprojekte als auch mit seinen Lockdowns, Corona-Apps, digitalen Kommunikationsangeboten, Gesundheitszertifikaten und teils verpflichtenden Impfungen die entsprechenden Branchen begünstigt. Gleichzeitig wurde in der breiten Bevölkerung ein »neues Sozial- und Konsumverhalten« eingeübt.

Mit ihrer Analyse unterscheidet sich Komlosy von anderen linken Positionen zur Pandemie. Weder stilisiert sie die Pandemie zu einer Art Naturkatastrophe, vor der uns Vater Staat mit einer umfangreichen »Ausgaben- und Finanzpolitik in keynesianischer Tradition« retten soll, noch schließt sie sich den Crash-Propheten an, die einen baldigen Zusammenbruch der kapitalistischen Ökonomie erwarten. Komlosy beharrt auf der kybernetischen Erneuerung des Kapitalismus – mit offenem Ausgang, obgleich sie warnt, dass dieser Kapitalismus aller Voraussicht nach mit »den Werten der bürgerlichen Freiheit und der bürgerlichen Demokratie« brechen wird. Denkbar sei eine Entwicklung »in Richtung eines autoritären Staatskapitalismus«: An die Stelle demokratischer Aushandlungsprozesse könnte eine technokratische, durch digitale Überwachung abgesicherte Regierungsform treten.

Wenn man dem etwas entgegensetzen möchte, kommt man mit einer moralisierenden Politik der Angst nicht weit. Hilfreicher wären Analysen der Gegenwart, wie sie Komlosy für die Pandemie vorgelegt hat. Zeitdiagnosen also, die sich den ökonomischen Zwängen und politischen Kräfteverhältnissen ihrer Zeit bewusst sind – ohne sie deterministisch zu verkürzen. Damit lässt sich zwar keine Krise »wegmanagen«, aber es öffnet den Raum für Verständigung und ermöglicht eine Debatte über die Ausrichtung politischen Handelns. Und das braucht es, wenn wir eine Zukunft wollen, in der von der Welt mehr übrig bleibt als ihre effiziente Notstandsverwaltung.

Andrea Komlosy: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft. Promedia, 288 S., geb., 23 € (E-Book: 19 €).

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