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Tess Gunty »Der Kaninchenstall«: Der Horror von Vale Vacca
In ihrem prämierten Roman »Der Kaninchenstall« erzählt Tess Gunty vom feministischen Kampf im kleinstädtischen Kosmos des Rust Belt
Der große amerikanische Roman ist schon fast so etwas wie ein Mythos des US-Literaturbetriebs, dessen Ursprung ins 19. Jahrhundert zurückreicht, wo Henry James den Begriff erstmals benutzte. Philip Roth machte sich einen Spaß aus diesem von Literaturkritikern so gern und mitunter inflationär verwendeten Schlagwort und betitelte 1973 seinen Roman über eine fiktive Baseball-Liga mit »The Great American Novel«.
Für gewöhnlich schreiben natürlich Männer wie John Steinbeck, William Faulkner oder später auch Thomas Pynchon, Jonathan Frantzen und David Foster Wallace diese großen Würfe, die das ganze Drama gesellschaftspolitischer Debatten und zeitgeschichtlicher Themen in ein ziegelsteingroßes Stück Literatur bannen. Frauen werden mit dem großen amerikanischen Roman wenig in Verbindung gebracht, wobei sich eh die Frage stellt, welche Rolle diese Kategorie des großen Prosa-Epos in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden kulturellen und politischen Gegenwart überhaupt noch spielen kann.
Aber im Grunde scheint sich der Literaturbetrieb nach solchen großen, die Welt erklärenden Würfen zu sehnen. Was im vergangenen Jahr am ehesten dieser Kategorie entsprach, schrieb eine Frau. Hanya Yanagiharas Roman »Zum Paradies« (2022) ist eine 800 Seiten starke fiktionale Beschäftigung mit den nicht nur in den USA so virulenten Themen Pandemie, Umweltzerstörung und autoritäre politische Strukturen.
Der große queere und migrantische Metropolen-Roman »Die Wächterinnen von New York«, der sich explizit gegen die Neue Rechte richtet und den die »New York Times« so treffend als »Ruf zu den Waffen« bezeichnete, schrieb ebenfalls eine Frau, nämlich N.K. Jemisin. Dabei boomen nicht nur in den USA die großen Romane junger Frauen, die auch als gesellschaftspolitische Intervention gelesen werden können.
Mit »Unser Teil der Nacht« (2022), einem Antifa-Horror-Schocker, der von der argentinischen Militärdiktatur über satanistische Rituale in der Provinz bis zu Post-Punk in Buenos Aires erzählt, lässt die Autorin Mariana Enriquez die Romane des viel gerühmten magischen Realismus ihrer männlichen Kollegen fast schon niedlich aussehen. Insofern verwundert es nicht, dass dieser Bücherherbst schon im Sommer mit einem ebenfalls von einer Frau verfassten Roman aufwartet, der die großen zeit- und gesellschaftspolitischen Themen in einen erzählerisch ungemein dichten und sprachlich genialen literarischen Kosmos überführt.
Für »Der Kaninchenstall« bekam die 29-jährige Autorin Tess Gunty als eine der jüngsten Autorinnen nicht zu Unrecht im vergangenen Jahr mit dem National Book Award einen der wichtigsten Literatur-Preise der USA.
Der Titel gebende Kaninchenstall ist ein Wohnblock in der fiktiven Kleinstadt Vale Vacca im Bundesstaat Indiana. Seinen Namen verdankt er den vielen Kaninchen, die auf den Brachflächen der heruntergekommenen Stadt herumhoppeln. Denn seine besten Tage haben Wohnblock wie Kleinstadt im deindustrialisierten und von Arbeitslosigkeit geprägten Rust Belt längst gesehen.
Der fiktive Autokonzern Zorn, ein Inbegriff amerikanischer Technologie und Industrie, machte aus der Kleinstadt im ländlichen Nirgendwo zu Hochzeiten des Fordismus einen boomenden Ort, leider auch inklusive massiver Vergiftungen von Böden und Grundwasser, was zu zahlreichen Erkrankungen in der Bevölkerung führte. Anhand der Bewohner des Kaninchenstalls fächert Tess Gunty ein skurriles Panorama unterschiedlicher Charaktere und Biografien von Vale Vacca auf. Im Zentrum der Erzählung steht die 18-jährige Blandine Watkins, die erstmals aus der Fürsorge entlassen ohne Pflegefamilie lebt, gerade die High School geschmissen hat und mit drei jungen, fleißig vor sich hin kiffenden Männern in einer WG zusammenwohnt.
»In einer heißen Nacht verlässt Blandine Watkins in Apartment C4 ihren Körper.« Mit diesem Satz beginnt Tess Guntys Roman, ohne erst mal genauer darauf einzugehen, was mit der jungen Frau geschieht. Blandine, die gerade ihren bisherigen Namen Tiffany abgelegt hat, liest in einem fort Texte von Mystikerinnen und zitiert am liebsten Hildegard von Bingen. Ein paar Türen weiter wohnt ein Rentnerehepaar, das seine Jugend im damals ökonomisch florierenden Rust Belt verbrachte, jetzt gemeinsam alt wird und misstrauisch die Nachbarn beäugt. Dann gibt es da noch die 40-jährige Joan Kowalski mit ihren Plastikpflanzen, die für eine Trauerseite Online-Anzeigen redigiert und die Kommentare überwacht – um nur einige Bewohner des Kaninchenstalls zu nennen.
Haupthandlungsstrang dieser aus zahlreichen, ungemein kunstvoll und dramaturgisch sinnfällig ineinandergeschobenen Ebenen, erzählt vom missbräuchlichen Verhältnis eines High-School-Lehrers mit Blandine. James, der frustrierte Leiter der schulischen Theatergruppe, der einst in die Kleinstadt-Upper-Class eingeheiratet hat, hat mit der mehr als ein Vierteljahrhundert jüngeren Blandine eine Affäre, die natürlich irgendwann jäh endet. Schwer verletzt und gedemütigt verlässt Tiffany aka Blandine die Schule und verzichtet auf ein College-Stipendium, das ihr als einer der besten Schülerinnen fast schon sicher war.
Das Besondere an Tess Guntys Roman ist die Art und Weise, wie sie diese Geschichte erzählt. Ihr Sprachstil ist ungemein lakonisch und treffsicher wie bei David Foster Wallace. Die subkulturelle Wut, mit der Tess Gunty das literarische Universum ihrer verletzten Heldin auseinanderfaltet, die kleinen Geschichten und die großen handlungstragenden Ereignisse miteinander verknüpft und in Szene setzt, erinnert ein wenig an Tristan Egolf, der dem Rust-Belt mit seinem Riot-Roman »Monument für John Kaltenbrunner« fast schon ein Denkmal setzte.
Tess Gunty lässt in ihrem Kaninchenstall eine ganze Kleinstadt als komplexen literarischen Kosmos lebendig werden. Das reicht vom Priester, der eigentlich genug hat von der Religion über die prunkvollen Villen der Reichen, den frustrierten Sohn eines ehemaligen TV-Kinderstars, der eher zufällig nach Vale Vacca gerät, bis hin zur wunderlichen alten Frau, die mit einem Einkaufswagen voller Plüschtiere saufend vor dem Supermarkt steht. Es geht in diesem ungemein flott und unterhaltsam geschriebenen Buch um Philosophie, Kunst und Drogenmissbrauch, um Charity, um industrielle Umweltverschmutzung, um aussterbende Tierarten, Klimawandel, Gentrifizierung, um Kindererziehung, Missbrauch, um Angststörungen und um den fortwährenden und harten Kampf um Anerkennung.
»Der Kaninchenstall« ist die Geschichte einer Selbstfindung, einer Radikalisierung und eines feministischen Kampfes gegen autoritäre Zwänge und männliche Macht- und Gewaltstrukturen. Der einzige Rückzugsort, der Blandine schließlich bleibt, nachdem auch die sexistischen Belästigungen ihrer Mitbewohner immer stärker werden, ist ein kleinstädtischer Park. Aber genau dieses Gebiet soll im Zuge einer immobilienwirtschaftlichen Aufwertung zerstört und in ein Areal für Luxusapartments umgewandelt werden. Auf ein Festbankett der kleinstädtischen High-Society, bei dem auf die von Blandine so gehassten Gentrifizierungs- und Umweltzerstörungspläne angestoßen wird, verübt sie einen Anschlag und lässt aus Lüftungsschächten Abfall und Teile von Tierkadavern auf die schicke Partygesellschaft regnen.
Natürlich kommt es im Verlauf des Buches ebenso zum großen Showdown mit ihrem ehemaligen Theaterlehrer wie mit ihren immer lästiger und anstrengender werdenden Teenager-Mitbewohnern. Das zu Beginn des Romans erwähnte Verlassen ihres Körpers scheint dann doch weniger mit Blandines Lektüre der Mystikerinnen zu tun zu haben, als vielmehr mit widerlicher struktureller antifeministischer Gewalt, die fester Bestandteil des Status quo dieser amerikanischen Kleinstadt-Normalität ist. Dagegen schreibt Tess Gunty mit ungemein viel Fantasie, literarischer Wut und kämpferischer Inspiration an.
Tess Gunty: Der Kaninchenstall, Kiwi, 416 S., geb., 25 €.
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