Mauerbau: Das Banale im Monströsen

Die Mauer war mehr als nur ein 156 Kilometer langer Funktionsbau

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 5 Min.
Hüben und drüben: Blick von einem Grenzturm auf die Berliner Mauer
Hüben und drüben: Blick von einem Grenzturm auf die Berliner Mauer

Pünktlich zum Jahrestag des 13. August 1961, oder zumindest am »Vorabend«, wird im Potsdam-Museum die Fotoausstellung »Entlang der Mauer« eröffnet. Der Fotograf Matthias Kupfernagel, geboren 1948 in Pfaffendorf in der Sächsischen Schweiz, hatte in den ersten Monaten des Jahres 1990 die Idee, eine beinahe vollständige fotografische Dokumentation der 156 Kilometer langen Sperranlage anzufertigen. Alle rund 2500 Fotos hat er dieser Tage dem Potsdam-Museum geschenkt, dessen Förderverein binnen vier Wochen die Ausstellung auf die Beine gestellt hat.

Dass die Berliner Mauer kein Bauwerk war, das durch das Alter vergoldet worden wäre, ist Gemeingut und müsste auch durch eine solche Ausstellung nicht bewiesen werden. Der Autor dieser Zeilen hat seine Kindheit und Jugend in Hennigsdorf verbracht, mithin im Schatten des »antifaschistischen Schutzwalls«, wie die DDR-Propagada seinerzeit die Mauer nannte. Er weiß also, wovon er hier schreibt.

Wer heute die Schwarz-Weiß-Fotografien von Kupfernagel betrachtet, hat noch einmal dieses beklemmende Gefühl, das die Riesen-Sperranlage erzeugte: das Gefühl der Eingrenzung, der Ohnmacht. Dem konnte der Künstler kaum entgehen, weil das Motiv selbst diese zwingende Ausstrahlung hatte. Und keine andere. An der Berliner Mauer starben in den 28 Jahren ihres Bestehens 138 Menschen, 25 davon waren Angehörige der DDR-Grenztruppen.

»Schlechte Bilder zeigen bestenfalls wirkliche Dinge«, schrieb Bertolt Brecht einmal. »Aber sie zeigen nicht, wie die Dinge wirklich sind.« Nein, die Fotos von Kupfernagel sind nicht schlecht, sondern vor einem Hintergrund sogar sehr wertvoll. »Niemand hat geglaubt, wie schnell dies alles nahezu völlig verschwunden sein würde«, sagte er zur Eröffnung seiner Fotoschau.

In Absprache und teilweise begleitet von Angehörigen der DDR-Grenztruppen war er drei Monate lang der Anlage gefolgt. Nicht wenige dieser Soldaten waren unmittelbar danach an deren Demontage beteiligt. Kupfernagel kam, so gesehen, im ersten möglichen und gleichzeitig auch im letzten Augenblick.

Tatsächlich war die Situation damals binnen Jahresfrist eine radikal andere, es galt, die Mauer mit Stumpf und Stil auszurotten. Wenn heute Menschen beinahe verzweifelt nach Resten und Spuren dieser gigantischen Absperrung suchen, so haben sie fast immer Pech. Man soll eben nicht jedes Mal der ersten heftigen Regung nachgeben und radikal zerstören, was in diesem Moment als böse empfunden wird.

Wer durch die Ausstellung geht, dem wird das Element der Wiederholung nicht entgehen. Die Motive ähneln einander. Weil die Mauer ein Funktionsbau war, ist letztlich dieses »Immergleiche« Thema der Fotos, die Banalität und das Monströse des Martialischen, das im Moment der Filmbelichtung keine Gefahr mehr darstellte, sondern nur noch »für sich stand.« »Das Harte unterliegt«, hat Brecht ebenfalls geschrieben.

Aber wer hat das alles nicht vorher schon gewusst? Was den Fotos nicht vorzuwerfen ist, ist aber die Gesamtbetrachtung. Sie geht eben keinen Millimeter über die vorgegebenen Parameter der zeitgeschichtlichen Betrachtung hinaus, liefert also keinen Mehrwert.

Was ruft in diesem Zusammenhang weiter nach Untersuchung? Warum zum Beispiel sind bekannte Schauspieler unter anderem vom Deutschen Theater und dem Berliner Ensemble an die Baustellen gefahren, um den Soldaten und Bauleuten Mut zuzusprechen und sie in ihrem Werk zu bestätigen? Warum hat der Künstler Wolf Biermann ein Theaterstück verfasst, in dem der Mauerbau verherrlicht worden war?

Die SED war übrigens nicht so blöd, das auch noch aufführen zu lassen. Wie ist zu erklären, dass mit dem Mauerbau in den 1960er Jahren ein Jahrzehnt begann, das viele DDR-Bürger im Rückblick als das erfolgreichste des sozialistischen Staates in Erinnerung haben? Nur mit Fotos von den Grenzabsperrungen ist all das jedenfalls nicht zu erklären.

Ein Beispiel: In den 50er Jahren hatte die DDR in Birkenwerder bei Berlin eine Internatsschule für schwerbehinderte Kinder eingerichtet, die sie schließlich auch zum Abitur führte. Eine damals weltweit einmalige, bewunderte Einrichtung, für die es in der Bundesrepublik keine Entsprechung gab. Im Jahr 1957 gingen 83 von 200 Schwestern und Ärzte an der Schule in den Westen – einschließlich der Chefärztin. Das war ein furchtbarer Schlag für die Kinder. Und es war kein Einzelfall.

Wenn man die Zahl der Ärzte in der DDR 1949 mit Faktor 100 ansetzt, so waren es 1961 noch 89. Und in der gleichen Zeit wurden an den Universitäten dieses Landes etwa 20 000 Ärzte ausgebildet. Rechtfertigte das den Mauerbau? Man sollte es sich mit der Antwort nicht zu leicht machen.

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Die Mauer hatte immer ein äußerlich hässliches Gesicht, wie auch die Fotos im Potsdam-Museum eindringlich zeigen: Sie war von allen Seiten nicht schön. Sei sie bemalt oder nicht. Wie alle bedeutenden Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens trug sie aber ein Doppelgesicht. Was am Ende das Gesamturteil nicht ändert: Die DDR konnte ohne Mauer genauso wenig auf Dauer existieren wie mit ihr.

Zweifellos schuf der Mauerbau »geordnete Verhältnisse« im Sinne der SED. Das konnte nicht jedem gefallen. Aber diese Verhältnisse gestatteten, dass zwischen 1961 und 1989 ca. 486 000 DDR-Bürger nach mehr oder weniger langen und mehr oder weniger bedrückenden Wartezeiten in die Bundesrepublik übersiedeln konnten. Mit Stempel, Wertsachen und ohne Gefahr für Leib und Leben. Und dabei sind die rund 35 000 freigekauften Häftlinge noch nicht einmal mitgezählt. Auch ihre Gesundheit und ihr Leben waren durch die Ausreise nicht in Gefahr.

Anstelle der weißgrauen Betonwände, die Matthias Kupfernagel dankenswerterweise fotografiert hat, schlängelt sich nun ein grünes Band um und durch Berlin. Das ist die heutige Hinterlassenschaft der Mauer. Gelände, das ohne die Mauer längst überbaut worden wäre, blieb frei und könnte den Boden für Versöhnung bilden. Kein Begriff aber liegt der Aufarbeitungsindustrie ferner. Wir sind in Deutschland.

Und es existiert ein Phänomen, das ebenfalls der zeitgenössischen Aufarbeitung völlig entgangen zu sein scheint: Wenige Wochen nach dem umjubelten Fall der Berliner Mauer ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. 45 Jahre lang hat er den Kontinent verschont. In den 28 Jahren der Mauer-Existenz hat der Krieg von Europa abgelassen. Und nahezu gleichzeitig mit dem Mauerfall war er wieder da. Es scheint, als habe er nur auf diesen Fall gewartet.

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