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Armutsdebatte: Die Negation der Leidenschaft
Egal, was Politiker sagen: In einer kapitalistischen Gesellschaft lässt sich Armut nicht abschaffen
Kaum eine Debatte ist verlogener als die über Armut. Die Bürgerlichen beschreiben Armut lediglich in einer Semantik von Abwesenheiten. Dabei kennt, wer arm ist, etwas, das andere nicht kennen: ein ganzes Universum von Demütigung und Schmerz.
Vergangenes Jahr war jedes vierte Kind in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Quote lag bei unter 18-Jährigen, deren Eltern über einen Haupt- oder Realschul-, aber über keinen beruflichen Abschluss verfügen, laut Statistischem Bundesamt bei 37,6 Prozent. Kinder aus Familien mit mittlerem Bildungsabschluss waren in 14,5 Prozent der Fälle armutsgefährdet. Bei Eltern mit Hochschul- oder Meisterabschluss waren es nur 6,7 Prozent.
Aus Sicht der Behörden ist armutsgefährdet, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Für Alleinlebende lag der Schwellenwert im vergangenen Jahr bei 1250 Euro netto monatlich, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern im Alter unter 14 Jahren bei 2625 Euro. Das Fazit der Beamten: Besonders Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern mit »niedrigem Bildungsabschluss« sind betroffen.
Die Armutsdebatte als Farce
Die politische Diskussion über die Einführung der Kindergrundsicherung ist exemplarisch für den Umgang der Herrschenden mit Armen. Gestützt auf den Koalitionsvertrag forderte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) für die Kindergrundsicherung ursprünglich 12 Milliarden Euro pro Jahr. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erteilte ihr mit dem Verweis auf die Schuldenbremse eine Absage. Nun soll das Bundesfamilienministerium zwischen 2025 und 2027 nur 2 Milliarden Euro jährlich für die Kindergrundsicherung erhalten.
Im Gespräch mit »Bild am Sonntag« relativierte der Bundesfinanzminister die Kinderarmut in Deutschland mit rassistischen Untertönen. Die Hälfte der betroffenen Kinder lebten in Familien mit Migrationsgrund, das verzerre die Zahlen. Wirksamer könne die bessere Sprachförderung und Arbeitsmarktintegration der Eltern sein. »Es muss außerdem immer ein finanzieller Abstand verbleiben zwischen denjenigen, die arbeiten, und den anderen, die nicht arbeiten.«
Nun wird über das Aufbringen der Mittel gestritten, und Journalisten beteiligen sich munter an einer Debatte nach bewährtem Drehbuch, wonach so getan wird, als wäre der Kapitalismus auch ohne Armut möglich – entweder durch Geldtransfer (Paus) oder den Leistungswillen Betroffener (Lindner). Das ist eingeübte Ideologie.
Der größte Skandal liegt darin, dass Lindner fast 446 Milliarden Euro für das kommende Jahr ausgeben und bei Kindern sparen will, während zugleich Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ohne jede Widerworte 20 Milliarden Euro für die Beschaffung von Munition verlangt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kann über Nacht 100 Milliarden für die Bundeswehr lockermachen, nicht aber für die Bekämpfung von Armut. Ein Schlag ins Gesicht der Beherrschten.
»Wer noch mehr Mittel für höhere Geldleistungen einsetzen will«, erklärt Lindner im selben Interview, »muss sagen, wo dafür im Staat gespart wird.« An welcher Stelle spart der Staat bei der Hochrüstung des Militärs? Wer zahlt den Preis und wofür? Dazu kein Wort. Das Privateigentum setzt klare Prioritäten.
Die Kehrseite des Reichtums
Wird Armut auf eine sparpolitische Debatte über Geld und Leistungsbereitschaft reduziert, muss nicht darüber gesprochen werden, dass die herrschende Wirtschaftsform die Armut der unterdrückten Klassen zwingend hervorbringt. Armut in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise entsteht nicht aus Mangel an Gütern und Mitteln wie in vormodernen Gesellschaften, sondern ist im Gegenteil die Kehrseite eines Überflusses an ebendiesen Gütern und Mitteln, die sich in den Händen der herrschenden Klasse befinden. »Überflussarmut« wäre ein Begriff, der diese Dialektik freilegte, die bereits von G. W. F. Hegel in Bezug auf die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft angedeutet wurde.
In seiner Rechtsphilosophie schreibt Hegel, dass »bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, das heißt, an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut« entgegenzusteuern. Karl Marx arbeitet diese Andeutung in seiner Kritik der politischen Ökonomie aus und zeigt mit dem Begriff der »industriellen Reservearmee«, dass das Ausbeutungsregime Methode hat. Und das gilt auch noch heute: Ob Fleischbaron Clemens Tönnies oder Großerbin und Konzernmatriarchin Maria-Elisabeth Schaeffler, sie alle brauchen die Armen für die Maximierung ihres Profits.
In Armutsdebatten wird dieser wesentliche Punkt unterschlagen, indem sich die Bürgerlichen in einer Beziehung negativer Verdinglichung zur Armut verhalten. Das Fehlen von Mitteln wird als unwiderlegbare Tatsache hingestellt, obwohl Mittel nicht fehlen. Die Politik hält diese Mittel zurück, sie häufen sich bei den Vermögenden. Das Kapital und die Reichen werden gar nicht erst angetastet, nicht einmal steuer- oder erbrechtlich. Ihr Geschäft wird sichergestellt.
Dieses Manöver, stets das Fehlen von Mitteln – ob im Staatshaushalt oder bei den Armen – zu thematisieren, entspringt der strengen Herrschaftslogik, nicht über das zugrunde liegende Gesellschaftsverhältnis zu sprechen. In diesem bereichert sich die Bourgeoisie zulasten der Armen. Man müsste solchen Lügen eine Theorie der Armut entgegensetzen, die nicht bloß beschreibt, was Armen fehlt, sondern die vorbehaltlos widerspiegelt, was sie in der kapitalistischen Gesellschaft zwangsläufig umgibt: Gewalt, Lärm, Depression, Drogen, Scham, Wut, Enge, Polizei, Justiz. Klassenbewusste Literatur vom Standpunkt Geschlagener und Besiegter vermittelt diesen Zustand.
Ein Universum der Armut
Meine Familie, meine Freunde und ich litten nicht daran, dass uns Dinge fehlten. Wir ahnten nicht einmal, dass es sie geben könnte – etwa dass man in seiner Wohnung Regale aufstellen könnte mit Büchern, die gelesen werden. Wir litten stattdessen an der Anordnung und Beschaffenheit der vorhandenen Dinge: an der Hellhörigkeit schimmelbefallener Wände, an einem Kinderzimmer, das wir uns zu dritt teilen mussten. Auch an Menschen: an Lehrern, die sich ihrer Macht über unser Schicksal sicher waren, an Beamten, die uns mit ihrer Verachtung das Gefühl der Minderwertigkeit gaben, und an Arbeitgebern, die unsere Abhängigkeit von ihnen ausnutzten. Das ist Armut. Damit mussten wir kämpfen.
Während Reiche unter Armut ein Nichts und Nichthaben verstehen, nehmen die Armen ihren Zustand als ein betonfestes Sein wahr. Es ist ein Zustand, in dem sie tagein, tagaus mit anonymer Willkür konfrontiert sind. Armut ist eine gesellschaftlich gemachte Seinsform, die dein Sein negiert, dein Begehren, deine Leidenschaft, deine Sehnsucht, deinen Körper. Wozu? Damit du gehorchst. Der Schmerz, der dir so zugefügt wird, ist deine vermeintlich nicht veränderbare Wirklichkeit.
Im Kapitalismus existiert ein Universum der Armut, und es wird täglich aufrechterhalten. Nicht hauptsächlich am Mangel selbst, sondern an der permanenten Reproduktion dieses Universums leiden die Armen und Besitzlosen.
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