• Kultur
  • Biodiversität versus Artensterben

Hinweg mit dem Kapitalismus

Ashley Dawson über das gesellschaftlich verursachte Aussterben der Arten

  • Tim König
  • Lesedauer: 3 Min.

Für keinen aufmerksamen Zeitgenossen dürfte das rasante Fortschreiten des Insektensterbens keine Neuigkeit sein. Mag sein, dass man das Verschwinden der Mücken gutheißen würde, aber auch diese Quälgeister sind für das Ökosystem wichtig. Ein besorgniserregender Bericht des WWF (World Wide Fund For Nature) aus dem Jahr 2018 enthüllte, dass seit 1970, also innerhalb von knapp einem halben Jahrhundert, bereits 60 Prozent der Säugetiere, Vögel, Fische und Reptilien ausgerottet worden sind. Und eine unvorstellbar große Zahl von Arten akut davon bedroht ist. Wer ist dafür verantwortlich? Auch dies glauben wir zu wissen: der Mensch.

Ashley Dawson gibt sich jedoch nicht mit der allzu schlichten Antwort zufrieden, der Mensch sei per se gierig und zerstörerisch, wollte und will die Natur immer stärker beherrschen, seinem Willen und seinen Zwecken unterwerfen. »Nicht die Menschheit im Allgemeinen ist für den Zusammenbruch der biologischen Vielfalt verantwortlich«, schreibt der New Yorker Professor in seinem jüngsten Buch, ein intelligentes, anregendes, flüssig verfasstes und wunderschön illustriertes Essay. Viele indigene Völker, Waldbewohner und Bauern auf der ganzen Welt hätten seit Jahrtausenden eine ausgewogene, symbiotische Beziehung zur Natur gelebt. Der Autor verweist auf bemerkenswerte historische Kontexte: Die Aussterberate von Tieren und Pflanzen ist seriösen Studien zufolge in der Zeit der europäischen kolonialen Expansion ab dem 15. Jahrhundert signifikant angestiegen, nahm mit der Industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts erneut deutlich zu und explodierte förmlich während der »Großen Beschleunigung« (zentraler Begriff der Anthropozänforschung) nach 1945. Dawsons Fazit: »Der drastische Schwund der biologischen Vielfalt ist ein Produkt der miteinander verflochtenen Kräfte des Kolonialismus und Kapitalismus.«

Da kann es eigentlich nur eine Schlussfolgerung geben: Hinweg mit dem Kapitalismus. Dawson ist dieser Überzeugung: »Wenn nicht die menschliche Natur, sondern der Kapitalismus schuld ist, dann müssen wir für die Rettung des Planeten kämpfen, indem wir einem Wirtschaftssystem ein Ende setzen, das ungehinderten Raubbau fördert.« Er mahnt aber zugleich, nicht erst auf das Verschwinden dieser zügel- und rücksichtslosen Gesellschaftsordnung zu warten. Den Ökozid gilt es schon heute zu bekämpfen. »Es gibt viele Dinge, die hier und jetzt getan werden können, um die Krise der Artenvielfalt anzugehen.« In diesem Zusammenhang diskutiert Dawson auch die Idee des Rewilding (Auswildern) wie etwa im Yellowstone Park in den USA bis hin zur radikalen Idee eines Pleistozön-Parks des russischen Wissenschaftlers Sergej Zimow in Sibirien, nett gemeint, aber letztlich nur »Öko-Provenzialismus« in hermetisch abgeriegelten Gebieten.

Nach einem historischen Exkurs – vom Gilgamesch-Epos, das schon von verhängnisvollen Abholzungen der alten Sumerer berichtet, über bedenkenlose Plünderungen von Ressourcen und Gemetzel an Tieren in antiken imperialen Reichen wie dem Alten Rom, über die globale Expansion des Kapitalismus seit Kolumbus’ Entdeckung der »Neuen Welt«, einhergehend mit Genoziden an Mensch und Natur, bis hin zu Großwildjagden und Pestizidwahn noch heute – appelliert Dawson noch einmal eindringlich: »Der Klimawandel macht es zwingend erforderlich, dass wir über radikale Veränderungen in den kapitalistischen Gesellschaftsbeziehungen diskutieren.« Er fordert angesichts des ökozidalen Charakters des Kapitalismus, der »immer mehr Löcher in das wunderbare Netz des Lebens reißt«, für eine gerechtere und biologisch vielfältigere Welt zu streiten. Ein empfehlenswertes Büchlein, das in jedes Reisegepäck passt.

Ashley Dawson: Aussterben – Eine radikale Geschichte. Kulturverlag Kadmos, 144 S., geb., 19,90 €.

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