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Ärztliche Moral unter Profitdruck

Die Gewinnorientierung der Medizin in den USA fordert Opfer auch unter Ärzten

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Problem der hohen Selbstmordrate von Ärzten in den USA ist der Wissenschaft lange bekannt, aber zugleich wird es stark tabuisiert. Die Pandemie scheint eine Wende gebracht zu haben. Eine aktuelle Studie von Louise Andrew vom amerikanischen Kolleg der Notfallärzte belegt, dass landesweit pro Jahr 300 bis 400 Ärzte den Freitod wählen. Dies ist eine doppelt so hohe Selbstmordrate wie in der allgemeinen Bevölkerung. Zudem leiden zwei von fünf Ärzten unter Depressionen oder psychischer Belastung.

Tatsächlich ist das Phänomen der Wissenschaft seit ungefähr 150 Jahren bekannt, stellte die Ärztin und Juristin Andrew fest. Sie veröffentlichte dazu im Medizinjournal »Medscape«. Ärzte gelten als privilegiert, als Gewinner in der kapitalistischen Gesellschaft. Sie sind weniger von Krankheiten belastet, weil sie Symptome früher erkennen und behandeln können. Doch auch ihr Zugang zur Selbsttötung ist einfacher. Für viele dieser Suizide wird von Kollegen dann aus Taktgefühl offiziell eine andere Todesursache benannt.

Aufmerksamkeit fand das Thema mit dem Selbstmord einer New Yorker Ärztin zu Beginn der Pandemie. Im April 2020, als täglich 800 Bürger der Stadt starben, tötete sich die 49-jährige Notfallmedizinerin Lorna Breen vom New York Presbyterian Allen Hospital, das in der verarmten Bronx liegt. Breen verkraftete die Überlastung ihrer Abteilung nicht. Familienangehörigen erzählte sie von den Kranken, die oft noch wartend im Krankenwagen starben. Ihr Vater sagte der »New York Times«: »Sie war wirklich in den Schützengräben an der Front. Sie muss als Heldin gefeiert werden, sie ist eine ›Gefallene‹.«

Die Corona-Epidemie wirkte der Tabuisierung ärztlicher Selbstmorde entgegen, weil diese in eine gesamtgesellschaftliche Erzählung eingebettet wurden. Bisher ging man davon aus, dass Ärzte – und besonders Notfallärzte oder Chirurgen – lange und emotional aufreibende Schichten einfach wegstecken. Depression gilt unter Ärzten sogar als karriereschädigend.

Die Militärpsychiaterin Wendy Dean war bei ihrer Arbeit in einem Forschungszentrum der US-Army in Maryland erstaunt, dass Ärzte sich häufiger als Militärs umbringen. Dann entdeckte sie ein gemeinsames Problem beider Gruppen: Dean nennt es »Moral Injury«, eine Verletzung des Moralempfindens. Sie veröffentlichte gemeinsam mit dem Chirurgen Simon G. Talbot dazu einen Fachartikel.

Demnach erleiden Ärzte wie Soldaten emotionale Verletzungen, wenn sie als Zeugen oder Täter Ereignissen beiwohnen, die ihren zentralen Werten widersprechen. Für Ärzte geht es um den Widerspruch zwischen dem hippokratischen Eid und der Wirklichkeit der auf Gewinn orientierten Medizin. Der Artikel ging zu einer Zeit viral, als ein Fünftel der Mitarbeiter im Gesundheitssektor den Job aufgab. Plötzlich verwendeten streikende Krankenschwestern die Idee der »Moral Injury« in Flugblättern und Presseerklärungen.

Die Produktivität von Ärzten wird immer technisch überwacht. Das Krankenhausmanagement fordert höhere Leistungen. Viele haben Angst, mit Journalisten zu reden, nachdem Kliniken von Kapitalgesellschaften übernommen wurden. Im März des Jahres 2020 wurde etwa der Notfallarzt Ming Lin abgelöst, als er die Covid-19-Sicherheitsprotokolle bemängelte. Lin arbeitete im St. Joseph Medical Center in Bellingham, Washington. Sein Arbeitgeber war TeamHealth, eine Tochter der Blackstone Group.

Krankenhäuser gliedern die Notfallmedizin mit ihren oft armen Patienten gern aus, um Geld zu sparen. Nach einer aktuellen Studie von Robert McNamara von der Temple University sind 30 Prozent dieser Stationen in den USA im Besitz von Kapitalgesellschaften. Folglich berichten 20 Prozent der Ärzte, dass sie abgemahnt werden, etwa wenn sie Patienten mit staatlicher Armen-Versicherung länger behandeln wollen. Anonym berichtet eine Ärztin, dass sie Sterbenden nicht mehr die Hand halten könnte, wie früher in ihrer Ausbildung. Heute ginge es um Geschwindigkeit, Effizienz, gewinnbringende Tests, weniger um Zuhören und Reden.

Die Bildung von Gewerkschaften wird vor diesem Hintergrund nicht mehr tabuisiert. 70 Prozent der US-Ärzte arbeiten angestellt. Der 30-jährige Mediziner Philip Sossenheimer berichtete, dass junge Ärzte sich nicht mehr anders als andere Beschäftigte sehen: »Für uns, die Millennials und noch Jüngere, wächst das Gefühl, dass es ein immenses Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten gibt.« So stimmten Medizinstudenten an der Klinik der Stanford-Universität 2022 mehrheitlich für eine Gewerkschaft. Ihr Vorbild war der Streik der Krankenschwestern am gleichen Krankenhaus.

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