Bayerisches Staatsorchester: Alles Gute, alter Klangkörper!

Das Bayerische Staatsorchester wird 500 Jahre alt

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 17 Min.
Seit Jahrhunderten ist München eine Musikstadt von europäischem Rang – auch dank des Bayerischen Staatsorchesters …
Seit Jahrhunderten ist München eine Musikstadt von europäischem Rang – auch dank des Bayerischen Staatsorchesters …

Kaum hörbar trillert die Bassdrum im vierfachen Pianissimo, während nach und nach Sounds eingespielt werden, Gongs hinzukommen. Ein unheimliches Raunen strömt aus dem Orchestergraben, Streicher-Glissandi, bis schließlich die Holzbläser das Signal für den Einsatz des »Semichors« geben, eines kleinen, im Orchestergraben versteckten achtköpfigen Chors, der den großen Chor auf der Bühne mitunter unterstützt, aber auch häufig die erste Silbe des Gesangs der Solisten aufgreift und in einer Art Loop verlängert. Hier wispert der Semichor: »Dust, noble dust, quintessence of dust, Beauty of the world, Dust returneth to dust« – Staub, edler Staub, Quintessenz des Staubes, Schönheit der Welt, Staub zu Staub. Wir sind in Brett Deans Oper »Hamlet« mit einem Libretto von Matthew Jocelyn nach William Shakespeare.

Und es rumort beträchtlich im Untergrund des Staates Dänemark, »something’s rotten in the state of Denmark«, es ist etwas faul im Staate Dänemark, mit dem Shakespeare natürlich seinen Staat England gemeint hat – oder eben auch, Shakespeares Werk ist ja unvermindert aktuell, beliebige Staaten unserer Tage. Und mit den Menschen, die in diesen Staaten leben, ist auch etwas nicht in Ordnung – Hamlet ist der Typus, der laut Frank Günther für viele zum Inbegriff des neuzeitlichen europäischen Menschen geworden ist, mit seiner Unsicherheit, seinen Zweifeln, seiner Depression, seiner Tatunfähigkeit. Ein am Sinn allen Handelns Verzweifelnder und philosophisch-schöngeistiger Grübler. Ein »Frührevolutionär« gar »in unreifer Zeit«?

Jocelyn und Dean führen ihren Hamlet eher als verstörten Rächer vor. Jocelyn hat sich in seinem Libretto auf die berühmten Zitate konzentriert, die eine Art Eigenleben führen. Gleich im ersten Solo beginnt Hamlet in dieser Oper mit den sprechgesungenen Worten: »or not to be«, es gleicht einer Suchbewegung, zunächst in kleinen Sekunden, dann im Aufschwung einer kleinen Terz, immer noch im Sprechgesang, nur: »… or not … to be …«. Das Solocello antwortet mit einem aufgeregten Quartmotiv auf f und h im 15/8-Takt. Auf die Wiederholung der Zeilen folgt ein Glissando, das zu drei gewagten Akkorden führt: Zwischen ein- und zweigestrichenen d’s hat Dean drei große Terzen getürmt, ehe wieder der Semichor mysteriös seinen Staub-Loop vorträgt.

Bereits diese Einleitung zeigt das Kompositionsprinzip von Brett Dean: eine »Mischung aus Komplexität und Einfachheit, Zugänglichkeit«, wie der Uraufführungsdirigent und ebenfalls Leiter der Münchner Aufführung, Vladimir Jurowski, meint, eine faszinierende, mitunter geradezu laszive Nervosität, mehr von Rhythmus und Instrumentation geprägt als von Melodien. Auch wenn Jurowski zu Recht anmerkt, dass man sich manche seiner Melodien sofort merken kann.

Dean arbeitet mit einem sehr großen Klangkörper, der Klang fließt vom Orchestergraben in den Saal. Darüber hinaus schreibt er zwei aus jeweils einem Klarinettisten, einem Trompeter und einem Schlagzeuger bestehende Satellitengruppen vor, die unsichtbar links und rechts vom Orchestergraben positioniert sind und für eine Art Stereoeffekt sorgen. Die Bläser nutzen auch Steine, die besondere, jenseitige Sounds hervorrufen, was gerade der berühmten Geisterszene zugutekommt, in der Dean einen Spaltklang von hohen und tiefen Lagen der Instrumente komponiert. Außerdem gibt es eine dritte Klangebene: Vor den Aufführungen werden reale Klänge von Harfe, Cello und Tamtam aufgenommen und zu elektronischen Klängen verarbeitet, die außergewöhnliche Eindrücke verschaffen – »Diskrepanzen, kognitive Dissonanzen« (Jurowski), ein untergründig schwebender, die Realität des Stücks hinterfragender Kommentar.

Hamlet und Anti-Hamlet – schon Heiner Müller hat damit in seiner legendären »Hamletmaschine« gespielt. Und im von Polonius gegenüber der Königin zitierten Liebesbrief an Ophelia schreibt Hamlet: »Thine evermore, most dear lady, whilst this machine is to him, Hamlet« – solange also seine »(Körper)Maschine« ihm gehört, will er »auf immer und ewig Dein sein«. Diese zentrale Stelle hat Jocelyn merkwürdigerweise weggelassen, er lässt dagegen Ophelia die Liebesschwüre selbst vortragen. Eine faszinierende Musik auch hier, »the very ecstasy of love« singt Ophelia in einem berauschenden und berauschten Quintett, das der Oberintrigant Polonius immer wieder sarkastisch kommentiert, zum Beispiel mit der Bemerkung »Green girl«, »kleines Kind«, und schließlich den Rest mit einem groben »et cetera, et cetera, et cetera« vom Tisch wischend. Keine Gefühle bitte, es geht nur darum, Hamlet als Wahnsinnigen auszumachen (und mit ihm natürlich Ophelia).

Und die Musik spielt dazu abwärts wandernde, aus kleinen Sekunden montierte dissonante Akkorde im 5/4-Takt sowie abwärts gehende chromatische Tonleitern in der Klarinette. Alles dem Abgrund entgegen, bis Ophelia sich nochmals zu Wort meldet und aus dem an sie gerichteten Liebesbrief zitiert: »To the celestial and my soul’s idol, / The most beautified Ophelia«, »die Göttin meiner Seele, die aufgehübschte Ophelia«. »Aufgehübscht«, wirklich? Ja, am Königshofe Dänemarks sind sie alle nicht nur in hässliche Intrigen verstrickt, sondern auch ganz schön durchgeknallt.

… und seines Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski.
… und seines Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski.

Brett Dean schreibt immer wieder einen »Sprechgesang« vor (in der Partitur verwendet er das deutsche Wort inmitten seiner englisch notierten Spielanweisungen), den die Sänger*innen »halb gesprochen« (»semi-spoken«) aufführen sollen, wie wir es aus Opern von Alban Berg oder Kurt Weill kennen. An Weill erinnert auch einer der szenischen Höhepunkte der Aufführung, »The Players«, also die fahrenden Schauspieler, denen Hamlet aufträgt, die Ermordung seines Vaters mittels eines anderen Stücks darzustellen. Eine schöne Idee von Brett Dean, Hamlets Jugendfreunde Rosenkranz und Güldenstern als Countertenöre zu besetzen, was die beiden in der Abwesenheit jeglicher Individualität zu Karikaturen ihrer selbst werden lässt – opportunistische Höflinge, jederzeit bereit, Hamlet auszuspionieren.

Mittels eines improvisierenden Akkordeonspielers entsteht eine lebendige Szenerie, in der auch der berühmte Monolog dargeboten wird (den Hamlet selbst in der ganzen Oper nicht singen wird – immer nur »or not to be«) – als eine Persiflage. Der erste Schauspieler sagt »To be or not to be«, der zweite ergänzt flapsig »Ay, that is the question«, darauf Hamlet »Ay, there’s the point«, worauf der dritte Schauspieler korrigiert: »Nay, there’s the rub!« Nö, das ist der Knackpunkt! Wie es bei Shakespeare heißt (hier gestrichen): Das Ziel, der Zweck der Schauspielerei ist es, der Natur den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihr Gesicht, »der Schande ihr eigenes Bild, und einer jeden Phase und Form unserer Epoche ihre Gestalt und ihren Eindruck«, wie Erich Fried diese Zeilen übersetzt hat.

Die Musik ist toll, keine Frage, aber ob sie die Figuren der Oper auch wirklich psychologisch ausleuchtet oder zumindest begleitet, bleibt leider offen. Vielleicht liegt es am letztlich doch schwachen Libretto, in dem sich Hamlet als eine Art Neurotiker mit Aufmerksamkeitsdefizit durch allerlei Intrigen bemüht. Kein melancholischer Grübler wird uns hier vorgestellt, sondern ein hyperaktiver Degenkämpfer. Und mal ganz ehrlich: Was gehen uns Kabale und (wenig) Liebe am dänischen/englischen Königshof an? Schade, dass Text und Handlung und auch die eher behäbige Inszenierung am Münchner Nationaltheater dem Level der Musik Brett Deans nicht standhalten.

In Shakespeares »Hamlet« ist die Zeit völlig aus den Fugen geraten (»The time is out of joint«), und Hamlet klagt, ausgerechnet er solle derjenige sein, der sie wieder einrenken soll (»O cursed spite, / That ever I was Born to set it right«). Auf die alten Hierarchien und Zugehörigkeiten ist kein Verlass mehr, Hamlet begreift: Es geht »um das Einrenken einer ausgerenkten Zeit«, letztlich um einen »Kampf zwischen Humanismus und Machiavellismus« (Jenny Farrell). Gerade das macht dieses Stück ja bis heute (und erst recht heute) so gültig und »modern«.

Beim Opernlibretto dagegen hat man das Gefühl, dass gerade die spannenden, aktuellen, vielleicht gar »frührevolutionären« Szenen und Gedanken ausgespart wurden, was doppelt schade ist, denn Brett Dean ist ja als ein Komponist bekannt, der sich gerne mit aktuellen politischen Themen beschäftigt. So bleibt leider der Eindruck einer inhaltlich und textlich nicht wirklich überzeugenden, überlangen Oper mit allerdings großartiger, extrem schwierig zu spielender Musik, vom Bayerischen Staatsorchester und dem Staatsopernchor unter der phänomenalen Leitung ihres Generalmusikdirektors Vladimir Jurowski grandios dargeboten. Aus dem guten Sänger*innen-Ensemble ragen der pfeifende Totengräber Joshua Bloom (der auch den Geist und Schauspieler 1 gibt) und die wundervolle Ophelia von Caroline Wettergreen heraus, deren ebenso zartes wie eindringliches, geradezu verzweifeltes »Never doubt« man nicht so schnell vergessen wird.

Das Bayerische Staatsorchester, wie die Wiener Philharmoniker oder die Staatskapelle Berlin sowohl Sinfonie- als auch Opernorchester, ist 500 Jahre alt und feiert das Jubiläum im Rahmen der Münchner Opernfestspiele mit einem opulenten Programm aus Opernaufführungen, Sinfonie- und Kammerkonzerten sowie einer Europatournee, die das Ensemble am 11. September im Rahmen des Musikfests Berlin auch in die Philharmonie führen wird. Dort steht eine Sinfonie der ukrainischen Komponistin Victoria Vita Polevá, das berührende Violinkonzert Alban Bergs »Dem Andenken eines Engels« sowie die »Alpensinfonie« von Richard Strauss auf dem Programm.

Es ist kein Zufall, dass anlässlich des Jubiläums auch eine zeitgenössische Oper wie Brett Deans »Hamlet« aufgeführt wird. Vielmehr entspricht dies im besten Sinn der Tradition dieses Orchesters – denn hier wurde seit jeher aktuelle Musik (ur)aufgeführt. Man vergisst gerne, dass im 16. Jahrhundert Orlando di Lasso »modern« war. Auch die Uraufführungen von Mozarts Oper »Idomeneo« 1781, von Mendelssohn-Bartholdys erstem Klavierkonzert 1831, der Wagner-Musikdramen »Tristan und Isolde« 1865, »Die Meistersinger von Nürnberg« 1868, »Das Rheingold« und »Die Walküre« 1869 oder von Hans Pfitzners Oper »Palestrina« 1917 waren ausnahmslos Zeugnisse aktueller, moderner und häufig sogar in die Zukunft weisender Kompositionen, ganz so, wie es Richard Wagner sich gewünscht hat: Die Musik solle ihrer Zeit voraus sein, schrieb er 1861 in seinem Aufsatz »Zukunftsmusik«, also das zukünftige ästhetische Potenzial abrufen, das in der Gegenwart bereits im Keim vorhanden ist.

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Dies gelang schon dem legendären niederländischen Komponisten di Lasso, der von 1562/63 an Kapellmeister der Münchner Hofkapelle war und das Orchester und damit auch München zu einer Musikstadt von europäischem Rang machte, wie Bernhold Schmid erklärt. Di Lasso hinterließ ein umfangreiches Werk, das alle musikalischen Gattungen seiner Zeit umfasst. Unter seinen etwa 1360 Kompositionen finden sich mehr als 500 Motetten, rund 175 Madrigale, Hunderte französischer Chansons und deutscher Lieder sowie 50 Messen und etliche weitere Werke. Er bediente sich aller im 16. Jahrhundert vorhandener Stile, ignorierte aber die stilistischen Gattungsgrenzen und erfand eine völlig neue Musik. »Er baut auf mitunter starke Kontraste, stellt ausgefeilte Imitation neben blockhafte Homophonie, verwendet syllabische Deklamation neben oder auch synchron zur Melismatik und setzt sehr hohe gegen sehr tiefe Stimmlagen« (Schmid) und bedient sich auch kühn einer exaltierten Chromatik. »Beseelte Verrücktheit«, meint der Musikwissenschaftler Horst Leuchtmann zu di Lassos Musik, und der Komponist wurde so zu einem Wegbereiter der Internationalisierung des Musikstils in der Zeit um 1600.

Dies und vieles andere kann man in dem zum Jubiläum erschienenen Prachtband »500 Jahre gelebte Tradition. Das Bayerische Staatsorchester« entdecken und lernen. Das von Florian Amort herausgegebene, üppig bebilderte Buch bietet neben hervorragenden Aufsätzen etliche Dirigentenporträts des 20. und 21. Jahrhunderts. Bruno Walter (1913–1922), Hans Knappertsbusch (1922–1936), Joseph Keilberth (1959–1968), Wolfgang Sawallisch (1971–1992), Zubin Mehta (1998–2006), Kent Nagano (2006–2013) und Kirill Petrenko (2013–2020) waren Generalmusikdirektoren des Orchesters und haben das Ensemble auf unterschiedliche Weise geprägt.

Nicht zu vergessen der legendäre Carlos Kleiber, der das Bayerische Staatsorchester über 30 Jahre lang in mehr als 260 Sinfoniekonzerten und Opernaufführungen dirigiert hat. Seine Aufführung von Beethovens »Pastorale« im November 1983 ist ebenso einzigartig wie seine Interpretationen des »Rosenkavaliers«, der »Fledermaus« oder von Verdis »La Traviata« – alles auf Ton- und Bildträgern nachzuhören und zu überprüfen. Hier ist ein »rekomponierender« Dirigent (Peter Gülke) zu hören, das »einzige Genie unter den Dirigenten seiner und meiner Generation«, wie Michael Gielen meinte. Und ein Dirigent, der das Musizieren des Orchesters, berühmt für seinen dunklen und warmen Klang, nachhaltig geprägt hat, gerade mit seiner Aufforderung, nicht zu sicher zu spielen, sondern sich dem Augenblick, dem spontanen Musizieren hinzugeben: »Wenn man weiß, was man will, verhindert man, daß es einem zufällt.« Heute setzt Vladimir Jurowski, in Berlin als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin bestens bekannt, diese Arbeit auf höchstem Niveau fort.

500 Jahre Bayerisches Staatsorchester? Nicht einmal das ist wirklich sicher. Amort weist darauf hin, dass schon 1476 die Musik »ein kulturelles Aushängeschild des Münchner Hofes« war; der systematische Auf- und Ausbau einer Hofkapelle wurde offenbar bereits seit 1500 betrieben. Die Ernennung von Ludwig Senfl 1523 zum Hofkomponisten war wohl keineswegs die Gründung, aber »der erste entscheidende Wendepunkt in der Historie des Klangkörpers«, und dies nimmt das Orchester zum Anlass, sein 500-jähriges Bestehen zu feiern.

Seit 1556 wirkte di Lasso in München, mit einem guten Gehalt ausgestattet und gegen Ende seines Engagements im Besitz von zwei Stadthäusern im Zentrum sowie weiterer Immobilien im Umland, so in Putzbrunn und in Schöngeising. Und so hörten wir im Heimatkundeunterricht in der Fürstenfeldbrucker Grundschule West in den 60er Jahren nicht nur von der Edigna-Eiche in Puch oder von Wildenroth, dem »bayerischen Bethlehem«, sondern auch vom Komponisten di Lasso, der sich in Schöngeising of all places niedergelassen hatte. Nicht das unter Denkmalschutz stehende Wasserkraftwerk, eines der ersten in Deutschland, 1891/92 nach Plänen Oskar von Millers gebaut und bis heute in Betrieb, sondern der Komponist prägte sich uns Schulkindern ein.

Das Dorf Geising wurde 763 das erste Mal urkundlich erwähnt. Als im 16. Jahrhundert mit Jagdgesellschaften vom nahegelegenen Kloster Fürstenfeld viel höfische Gesellschaft Gefallen an dem Dorf an der Amper fand, wurde aus Geising Schöngeising, und im Jahr 1587 schenkte Herzog Wilhelm V. Orlando di Lasso einen Garten mit kleinem Häuschen in dem Ort, der heute eine Art »Schlafdorf« für die Menschen ist, die in München arbeiten; nur die Bäckerei hat geöffnet, ansonsten herrscht unheimliche Ruhe, jedenfalls im Sommer diesen Jahres, als ich den Ort mit einem Freund besuchte. Das Wirtshaus hat nur am Wochenende geöffnet, lediglich an der Badestelle vergnügen sich ein paar Leute im kalten Nass des Gebirgsflusses. An der Stelle von Orlandos Garten steht heute ein neueres Haus, lediglich die vergilbte Tafel an der Wand legt Zeugnis davon ab, dass dieser Ort mal einen der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit beherbergen durfte.

In einem der spannendsten Beiträge des neu erschienenen Buchs zum Bayerischen Staatsorchester stellt Sebastian Werr die Zusammenhänge von Hofmusik und Politik her. »Höfische Repräsentation galt in ihrer Zeit weithin nicht als Verschwendung, sondern als eine sinnvolle Investition«, so Werr. Die Unterhaltungsaktivitäten der Höfe waren nicht zuletzt von »mancherley politischen Absichten« geprägt, wie der Zeremonialwissenschaftler Julius Bernhard von Rohr bereits 1729 feststellte: Die Herrscher nämlich wollten »die Liebe der Höhern und des Pöbels erlangen, weil die Gemüther der Menschen bey dergleichen Lustbarkeiten, die den äusserlichen Sinnen schmeicheln, am ehesten gelencket werden können«.

Die frühneuzeitliche Herrschaft wurde vor allem mit den Mitteln der Massensuggestion konstituiert. Brot und Spiele, dynastische Höherstellung, kulturelle Hegemonie – das klingt irritierenderweise auch heutzutage vertraut. Die »auf Überwältigung der Hofgesellschaft angelegten Feste« sollten nicht zuletzt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Bayerns beweisen, das jedoch weit über seine Verhältnisse agierte, um 1742 die Krönung Karl Albrechts zum Deutschen Kaiser zu erzielen. Das Glück dauerte nur drei Jahre, dann fiel die Kaiserwürde wieder an die Habsburger zurück.

Das Auf und Ab der wirtschaftlichen Verhältnisse des Münchner Hofs spiegelt sich auch in der Bezahlung der Musiker und der Besetzung der Hofkapelle. Mal bestand die Hofkapelle aus etwa 60 Sängern und Instrumentalisten (1568), dann wieder wurden etliche Musiker entlassen, und 1594 stand sogar di Lasso selbst auf einer Liste zu kündigender Hofmusiker, doch unmittelbar vor seiner Entlassung starb der Komponist. Im »Verzaichnus deren Personen, welchen Abgedanckht werden solle«, ist sein Name gestrichen, daneben der lapidare Vermerk: »Ist Todt.«

Im 17. Jahrhundert bestand das Orchester meist nur aus etwa 30 Musikern. Erst 1778, als es infolge der Übernahme der bayerischen Regentschaft durch den Pfälzer Kurfürst Karl Theodor zum Zusammenschluss der bayerischen Hofkapelle mit der renommierten kurpfälzischen Hofkapelle aus Mannheim kam, dem zu seiner Zeit wohl bedeutendsten Hoforchester in Europa, entstand ein größeres Orchester mit etwa 60 Instrumentalisten. Die meisten Streicher kamen aus der Münchner Hofkapelle, die Bläser dagegen fast ausnahmslos aus Mannheim, darunter die von Mozart auf seinen Besuchen in der Pfalz so schwärmerisch beschriebenen Klarinettisten.

Christian Cannabich, der seit 1744 am kurpfälzischen Hof als Violinist und ab 1773 als »Direktor der Instrumentalmusik« in Mannheim tätig war und diesen Job auch nach der Fusion der Orchester in München wahrnahm, sorgte für die neue Blüte der Münchner Hofkapelle. Er sorgte auch dafür, dass sein junger Freund Mozart den Kompositionsauftrag für die Oper »Idomeneo« erhielt. Für Mozart war Cannabich »der beste Director, den ich je gesehen«, einer, der »die liebe und forcht von seinen untergebenen« habe.

Doch die Geschichte der Münchner Hofkapelle ist nicht nur eine Erfolgs-, sondern mitunter auch eine Versagensgeschichte: Mozart beispielsweise hatte sich 1777 21-jährig für eine feste Anstellung in München interessiert, der Kurfürst beschied ihn aber, es sei keine »vacatur« frei. Ebenso versäumten es die Oberen, im 19. Jahrhundert Carl Maria von Weber und Richard Wagner fest zu verpflichten.

Allerdings trug die Hofkapelle im 19. Jahrhundert maßgeblich zur Entstehung des bürgerlichen Musiklebens in München bei. Von 1811 an durften die Musiker der Hofkapelle an spielfreien Tagen des Hoftheaters eine im Abonnement angebotene Konzertreihe in eigener Verantwortung, aber auch auf eigenes Risiko bestreiten: die Akademiekonzerte. Erstmalig wurden professionelle Konzerte für das selbstbewusster werdende Bürgertum angeboten. Eine Konzertreihe übrigens, die bis heute besteht, auch wenn sie mitunter gefährdet war. 1972 etwa konnte sie ihre Kosten nicht mehr selbst einspielen. Seitdem ist die Bayerische Staatsoper Veranstalterin der Konzertreihe, deren künstlerische Verantwortung aber bei den Musiker*innen der Akademie und dem Generalmusikdirektor verbleibt.

Das Bayerische Staatsorchester fühlt sich den großen Komponistennamen seiner reichen Geschichte besonders verpflichtet. Im Rahmen der Opernfestspiele kamen dieses Jahr unter anderem Mozarts »Così fan tutte«, Wagners »Lohengrin« und »Salome« von Richard Strauss zur Aufführung. Jurowski dirigierte eine funkensprühende, leichte und mitunter melancholische »Così« und zeigte, dass er nicht nur ein formidabler Beethoven-, Mahler- und Avantgarde-Dirigent, sondern auch ein ausgezeichneter Mozart-Interpret ist. Eine schöne Idee dieser Inszenierung von Benedict Andrews ist es, dass der kalte philosophische Strippenzieher Don Alonso und das ausschweifende Zimmermädchen Despina eine Liebesaffäre haben, wie uns schon während der Ouvertüre gezeigt wird. So werden die beiden zum »wahren leidenschaftlichen Liebespaar der Oper« (Slavoj Žižek), während die beiden eigentlichen Liebespaare und »ihr lächerliches erotisches Durcheinander« eher als tumbe Toren dargestellt werden. Vollkommen zurecht sind Johannes Martin Kränzle (wie schon bei der Salzburger Inszenierung dieser Oper 2020) und Sandrine Piau die gefeierten Stars dieser Inszenierung.

Die »Salome« dirigierte François-Xavier Roth. Zu erleben war ein völlig durchgeknalltes antikes It-Girl, verzogen, selbstverliebt und im wahrsten Sinn des Wortes männermordend – genial gesungen und dargestellt von Camilla Nylund. Und es ist auch die Münchner Strohfidel zu hören, eine Art Hackbrett, also ein Instrument aus der Volksmusik, das für eine komplizierte Stelle dieser Oper benötigt wird. Die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski stellt jüdische Geschichte, vor allem aber den Geschlechterkampf ins Zentrum. Salomes Tanz der sieben Schleier wird zu einem ekstatischen Totentanz, und Roth erzeugt einen geradezu wahnsinnigen, irrlichternden Sog, der mitunter näher bei Debussy als bei der deutschen Spätromantik andockt. Zwei Tage später dirigiert Roth Wagners »Lohengrin«, ähnlich faszinierend und in einer ganz besonderen Mischung aus Transparenz, individueller Klangfarbe und Sinnlichkeit.

Nicht zuletzt steht auch der »Tristan« weiter auf dem Spielplan – die wohl beste und spannendste Inszenierung dieser Oper, die man derzeit irgendwo sehen kann, zudem musikalisch auf allerhöchstem Niveau. Hier kommt die große Tradition des Orchesters zum Strahlen – auch mit eigens angefertigten besonderen Instrumenten wie der Holztrompete mit nur einem Ventil, die seit der Uraufführung 1865 für den Schiffssound im dritten Akt verwendet wird, oder die Bassklarinette in A mit deutschem System, die bei Solopassagen ihren warmen und runden Klang zeigen kann.

Bei den im Herbst geplanten Akademiekonzerten mit Zubin Mehta, Kent Nagano, Kirill Petrenko und Vladimir Jurowski hat das Orchester die Dirigenten gebeten, jeweils einen ihnen vertrauten Komponisten mit einem neuen Werk zu beauftragen – der Blick in die Vergangenheit ist eben nur aus einem aktiven Heute heraus denkbar, wie der Orchesterrat in der Jubiläumsbroschüre fordert.

Und was hat es mit dem auf den ersten Blick etwas befremdlich klingenden Namen des Klangkörpers auf sich? 1918 waren die Könige der deutschen Kleinstaaten im Zuge der Novemberrevolution geflohen oder gestürzt worden. Kurt Eisner (USPD) rief am 8. November 1918 den »Freistaat« Bayern aus. Die Hofkapelle hatte sozusagen ihren Dienstherrn verloren. Doch ihr Generalmusikdirektor Bruno Walter sympathisierte mit der Revolution und sogar mit der im April 1919 nach der Ermordung Eisners entstehenden Münchner Räterepublik. Wie nur wenig bekannt ist (bzw. nur wenig bekannt gemacht wird), bildete Bruno Walter gemeinsam mit den Schriftstellern Rainer Maria Rilke, Gustav Landauer und Heinrich Mann den »Rat der geistigen Arbeit« der Münchner Räterepublik, eine Art kulturelles Beratungs- und Entscheidungsgremium. Und natürlich musste nach der Revolution ein neuer Name für das Orchester her, an dessen Weiterbestehen die Revolutionäre keinen Zweifel gelassen hatten. So entstand 1918 der Name »Bayerisches Staatsorchester«, also das Orchester des von Eisner ausgerufenen demokratischen Freistaates Bayern, das natürlich auch die Revolutionsfeiern im Nationaltheater musikalisch begleitete. Walter sorgte dafür, dass die Musiker weiter ihre Gehälter und Pensionen aus öffentlichen Kassen erhielten, wie es bis heute geschieht.

Traditionspflege einerseits und andererseits unbedingte Offenheit und Engagement für die heutige und zukünftige Musik – kaum ein Ensemble weltweit lebt diese sich gegenseitig bedingenden und befeuernden Kriterien so überzeugend wie das Bayerische Staatsorchester, dem eine weiterhin glückhafte und dem Publikum Glück spendende Zukunft zu wünschen ist.

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