Es stürmt wieder

Tanz im August: Anne Teresa De Keersmaekers Kompanie Rosas erschafft mit »EXIT ABOVE after the tempest« ausgehend vom Blues eklektische, körperlich spürbare Momente

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 4 Min.
Bewegung in Zeit und Raum: »EXIT ABOVE after the tempest« bei Tanz im August
Bewegung in Zeit und Raum: »EXIT ABOVE after the tempest« bei Tanz im August

Bereits 1990, zur zweiten Ausgabe des Berliner Festivals Tanz im August, nahm Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrer Tanzkompanie Rosas mit »Stella« und 100 Metronomen am Tanzfestival teil; seitdem ist sie beim Festival ein gern gesehener Gast. Auch Ricardo Carmona, der neue Leiter des Festivals, lud die Belgierin ein, ihr neuestes Werk »EXIT ABOVE after the tempest« in einer Deutschlandpremiere zu zeigen. »Mein Gehen ist mein Tanzen« kündigt der Begleittext De Keersmaekers neueste Bewegungsforschung an.

Die Choreografin nahm sich bereits klassischer Musik an, etwa Johann Sebastian Bach und Arnold Schönbergs Komposition »Verklärte Nacht«, aber auch John Coltranes Free-Jazz-Variationen. Jetzt entdeckt sie den Blues für sich. Basierend auf Robert Johnsons Song »The Walking Blues« entwickelte sie gemeinsam mit der Sängerin Meskerem Mees, Ex-Rosas-Mitglied und Gitarrist Carlos Garbin und dem belgischen Produzenten Jean-Marie Aerts eine Choreografie, die mit einfachen Schritten und dem Marschieren einer Gruppe beginnt und sich zu einer komplexen Bühnenperformance aufbäumt. Aerts wird nicht auf der Bühne zu sehen sein.

»EXIT ABOVE after the tempest« lehnt sich an Shakespeares »Der Sturm« an. In einem Interview mit dem belgischen Théâtre National Wallonie-Bruxelles, wo das Werk seine Uraufführung feierte, erklärt die Choreografin: »Was sich durch den Tanz und das Stück selbst zieht, ist ganz klar der Sturm. Vielleicht befinden wir uns jetzt im Auge des Sturms. Vielleicht sind wir der Sturm.« Man denkt an Umweltkatastrophen, Kriege, die Selbstzerstörung des Menschen. In »Der Sturm« plädiert die Figur des Gonzalo für die Rückkehr zu einem Naturzustand ohne Herrschaftsstrukturen, indem die Menschen im Einklang mit der Natur leben.

De Keersmaeker leitet Rosas Performance mit einem einsamen Tänzer (Solal Mariotte) ein. Mariotte startet durch ein kurzes Klatschgeräusch ein monotones Brummen, ausgelöst von der E-Gitarre Garbins, der unauffällig neben dem Verstärker steht. In kurzen Abständen geht Mariotte zu zwei anderen Orten auf der Bühne und klatscht, als würde er durch Klang den Raum erschließen wollen. Einst nutzte man Händeklatschen, um böse Geister zu vertreiben. Dann beginnt Mees mit Worten aus Walter Benjamins Text »Engel der Geschichte«.

»Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.« Mariotte windet seinen Körper, er schüttelt sich und breitet die Arme wie Flügel aus, dann wird er sich zu neuen seltsamen, klickenden und flirrenden Geräuschen bewegen. Eine Windmaschine lässt ein riesiges transparentes Seidentuch wehen. Es füllt die hintere Mitte der Bühne aus. Mariottes Körperbewegungen gleichen sich den Bewegungen des Tuches an, und seine virtuosen Sprünge werden schwerelos. Weitere zehn Tänzerinnen und Tänzer werden erscheinen.

Bunte Linien auf dem Boden markieren die für De Keersmaeker typischen choreografischen Bewegungsmuster, denen die Tänzerinnen und Tänzer folgen werden. Die Belgierin, die gerne Medizin als einen ihrer alternativen Berufswünsche angibt, um die Mechanismen des Körpers zu erkunden, zeigt durch die mathematisch-geometrischen Formen ihren Drang, Bewegung in Zeit und Raum zu erforschen, zu verorten und zu strukturieren.

Allem voran trägt die Musik von Mees die Performance, denn die Sängerin, die zum ersten Mal in einem Projekt gleichzeitig tanzte und sang, trägt den Blues in sich. Ihre klare Stimme erfüllt den Raum. Sie singt den Walking Blues, und die Gruppe folgt ihren gesungenen Anweisungen.

»I put my left foot in front of my right foot infront of my left foot and I walk home.« Sorgsam setzen sie Fuß für Fuß nebeneinander und bewegen sich im Einklang nach vorn. Danach bleibt nur noch Garbins Gitarre, der seine Blues-Melodie immer wieder verstummen lässt, während die Tanzenden absurd-komische Posen einnehmen, fratzenhaft lachend, mit rollenden oder weit aufgerissenen Augen.

Es bleibt nicht beim Blues, im Laufe der Performance werden die Darstellenden gemeinsam mit Garbin und Mees verschiedene Spielarten des Tanzes mit zeitgenössischem Tanz mischen, ihre Tanz-, Lauf- und Marschschritte koordinieren und in kleinen Soli, Duos oder Trios Musik bildhaft vertanzen.

Später leuchten im Dunkeln kurze Flammen auf und erlöschen wieder, während Mees einen geflüsterten Gänsehaut-Rap über Feuer von sich gibt. Ihre Stimme vermischt sich mit dem Heulen der Nacht. Die Tanzenden erwachen aus der getanzten Ekstase, schließlich sinken sie würgend in stinkendem Nebel nieder, um sich dann wieder zu erheben und in der Gruppe zur von De Keersmaeker bestimmten Urform, dem Blues, zurückzukehren. Ein Tanzabend wie eine Reise durch den Sturm des Lebens.

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