- Wirtschaft und Umwelt
- Mindestlohn in der Altenpflege
Lohnuntergrenze als Maß der Dinge
Branchenmindestlohn in der Altenpflege soll deutlich angehoben werden
Mit rund 1,3 Millionen Beschäftigten gehören die Alten- und die ambulante Krankenpflege zu den wichtigsten Branchen am deutschen Arbeitsmarkt. Das sind mehr als etwa im Maschinen- und Anlagenbau, der gemeinhin als wichtigster Industriesektor gilt. Umso erstaunlicher ist es, dass in der Pflege zwar die Ost-West-Angleichung bei der Bezahlung vollzogen ist, es bis heute aber keinen einheitlichen Tarifvertrag gibt und Branchenmindestlöhne den Ton angeben.
Diese sollen nun deutlich steigen: Wie die Bundesregierung am Dienstag mitteilte, hat die Pflegekommission eine Anhebung in zwei Schritten empfohlen, gestaffelt nach Qualifikationsstufen. So soll der bundesweite Mindestlohn für Pflegehilfskräfte am 1. Mai 2024 auf 15,50 Euro und am 1. Juli 2025 auf 16,10 Euro pro Stunde angehoben werden. Für Pflegefachkräfte soll es zunächst auf 19,50 Euro und später auf 20,50 Euro pro Stunde hochgehen. Der Anstieg beträgt 12,3 bis 13,8 Prozent.
»Ich freue mich, dass die Pflegekommission einstimmig entschieden hat und wir den Pflegerinnen und Pflegern so zu deutlich mehr Lohn verhelfen«, erklärte Arbeitsminister Hubertus Heil am Dienstag. Von einem »wichtigen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer fairen Entlohnung für alle Pflege- und Betreuungskräfte« sprach Heils Kollege aus dem Gesundheitsressort und SPD-Parteifreund Karl Lauterbach: »Mit guten Löhnen und attraktiven Arbeitsbedingungen wollen wir auch in Zukunft die pflegerische Versorgung sichern.«
Worauf Lauterbach anspielt: Noch mehr als in anderen Branchen geht es in der besonders aufreibenden Pflegetätigkeit nicht allein um ordentliche Bezahlung, sondern auch um weitere Regelungen etwa zur Arbeitszeit. Daher empfiehlt die Kommission außerdem einen Anspruch auf zusätzlichen bezahlten Urlaub über das gesetzliche Minimum hinaus in Höhe von jeweils neun Tagen pro Kalenderjahr (bei einer Fünf-Tage-Woche).
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Die achtköpfige Pflegekommission ist paritätisch mit Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften besetzt. Empfehlungen des Gremiums bilden die Grundlage für die gesetzliche Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Branchenmindestlohns, der bis Ende Juni 2026 gelten soll. Der Arbeitsminister kündigte an, den neuen Vorschlag zeitnah per Verordnung umzusetzen.
Heil wies ferner darauf hin, dass gute Löhne auch gegen den Fachkräftemangel in dieser Branche helfen würden. Und der ist gravierend: Mit zuletzt durchschnittlich gut 18 000 offenen Stellen für Altenpflegefachkräfte gehört der Bereich zu den Top drei in der deutschen Wirtschaft. Daher ist der Minister regelmäßig auf wechselnden Kontinenten auf Anwerbetour. Mit geringem Erfolg: Die Hürden sind für migrationswillige Pflegekräfte nach wie vor zu hoch, während in Deutschland der Beruf durch geringe Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen nicht gerade anziehend wirkt.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi begrüßte die Empfehlung, hätte sich aber mehr gewünscht. »Angesichts der anhaltend hohen Preissteigerung vor allem für Lebensmittel und Energie ist es gut, dass der Pflegemindestlohn deutlich angehoben wird«, erklärte Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. »Für einen echten Inflationsausgleich gab es in der Pflegekommission aber leider keine Mehrheit.« Immerhin sichere der Mindestlohn eine Untergrenze, die die jahrelang praktizierte Ausbeutung in kommerziellen Pflegeunternehmen verhindere. Und mit Blick auf den Fachkräftemangel meint die Gewerkschafterin, es brauche weit mehr als einen Mindestlohn, um die Arbeit attraktiver zu machen. »Das geht nur mit guten umfassenden Tarifverträgen.«
Tatsächlich werden in der Altenpflege noch immer niedrigere Gehälter als etwa im Krankenhaus gezahlt. Zwar gibt es im Gefolge der Coronakrise, die die Missstände auch der Politik vor Augen geführt hat, seit September 2022 eine Pflicht zur Bezahlung tariflicher Löhne, doch gegen einen flächendeckenden Tarifvertrag sträuben sich insbesondere kirchliche Träger. Gleichzeitig drücken kommerzielle Anbieter die Gehälter der kaum gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten zum Zweck der Gewinnmaximierung. Und so ist die Lohnuntergrenze vielerorts noch immer das Maß der Dinge.
Derweil findet Die Linke auch an der geplanten Anhebung nichts Gutes: »Die Festschreibung der Pflegemindestlöhne auf so niedrigem Niveau wird dem Beruf in keiner Weise gerecht«, kritisiert Ates Gürpinar, Sprecher für Krankenhaus- und Pflegepolitik der Linksfraktion im Bundestag. »Die versprochene Aufwertung der Langzeitpflege wird so nicht gelingen, der Pflegenotstand wird zementiert.«
Dabei ist selbst der Mindestlohn in der Realität nicht überall die Lohnuntergrenze. Es gibt immer wieder Versuche, diesen zu umgehen, auch wenn dies teuer werden kann. Gerade in der häuslichen Pflege werden Beschäftigte gerne zu Schein-Selbstständigen gemacht. Wohl auch deshalb betonte die Beauftragte des Arbeitsministeriums für die Pflegekommission, Cornelia Prüfer-Storcks, bei der Vorstellung der neuen Sätze: »Der Pflegemindestlohn ist weiterhin wichtig als individuell einklagbarer Rechtsanspruch der Beschäftigten in der Pflege.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.