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Gefallen(d)e Intellektuelle
Giorgio Agamben galt vielen als kritischer Philosoph, bis er die Pandemie »Gesundheitsdiktatur« nannte. Ein Lehrstück zur Lage der Intellektuellen
Im Zuge der Corona-Pandemie verendeten die Intellektuellen. So zumindest hatte es der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht bereits 2020 in der »Neuen Zürcher Zeitung« verkündet. Die Intellektuellen hätten ihre kritische Distanz zum Staat und zur Macht aufgegeben und seien auf ein »Dauerlob von Regierungen« eingeschwenkt, das sich für Gumbrecht zunehmend in ein »Regime des Meinungsterrors« verwandelte. Anstatt durch ihren Bezug zu universellen Werten wie Freiheit, Gleichheit oder der Wahrheit über den je gegenwärtigen Machtkämpfen zu stehen, wählten sie nun eine Seite. Durch diese Parteinahme verrieten sie nicht nur ihre eigene Funktion, sondern die universellen Werte selbst, wenn sie diese für ein kleines Stück vom Kuchen opferten.
Als Ausnahme in diesem allgemeinen Trend lobte Gumbrecht wenige Monate später den italienischen Philosophen Giorgio Agamben. Dieser schien prädestiniert für einen kritischen Kommentar zur pandemischen Gegenwart: Sein mittlerweile neunbändiges Hauptwerk »Homo Sacer« beinhaltet Bände zur »Souveränität der Macht und das nackte Leben«, zum »Ausnahmezustand« und zur Analyse der Biopolitik. Daran anschließend sah Agamben in der Pandemie vor allem eine »Gesundheitsdiktatur« und einen Vorwand, um den Ausnahmezustand auszuweiten, dem auch demokratische Rechte geopfert werden mussten. Damit, so Gumbrecht wiederum, »beschwört Agamben ein verblüffend detailliertes und plausibles Bild von unserer unmittelbaren Gegenwart herauf«.
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Die vermeintlich so treffende Analyse stieß vor allem in rechten Kreisen auf viel Zuspruch, so etwa im Compact-Magazin von Jürgen Elsässer. Gegen derartige Sympathien verteidigte sich Agamben damit, dass eine »Wahrheit unabhängig davon gilt, ob sie von der Linken oder von der Rechten ausgesprochen wird«. Während den einen Intellektuellen also vorgeworfen wird, Regierungspositionen zu vertreten, wird Agamben wiederum vorgehalten, dass er sich in die Nähe von rechten Positionen und Verschwörungsideologie begibt. Wie gelangen die Intellektuellen also zur kritischen Distanz, die sie auszeichnen soll, und gelten die universellen Werte, für die sie bisweilen plädieren, tatsächlich unabhängig davon, bei wem sie auf Wohlgefallen stoßen?
Was verraten die Intellektuellen?
Die Klage über einen Verrat begleitet die Figur des modernen Intellektuellen beinahe seit ihrem ersten Auftreten in der Rolle als Repräsentanten universalistischer Werte. So erhob bereits 1927 der französische Schriftsteller Julien Benda den Vorwurf des Verrats: Indem sich die Intellektuellen seiner Zeit zunehmend für nationalistische oder politische Bewegungen begeisterten und für deren Ziele das Wort ergriffen, verrieten sie die distanzierte Position des Intellektuellen. Statt für diese oder jene Nation zu streiten, sollten sie das universelle Interesse der gesamten Menschheit vertreten.
Allerdings verkennt diese Vorstellung, dass die von ihm beschriebene Wandlung der Intellektuellen historisch begründet ist. So urteilte Walter Benjamin über die Schrift von Benda, dass er nicht sehe, »wie die Verhaftung der Intelligenz an die politischen Vorurteile der Klassen und Völker nur ein meist unheilvoller, meist zu kurz gegriffener Versuch ist, aus den idealistischen Abstraktionen heraus und der Wirklichkeit wieder nah, ja näher als je auf den Leib zu rücken«. Gegen diese Annäherung empfahl Benda eine Rückbesinnung auf die im strengsten Wortsinne weltfremden universalistischen Werte. Benjamin wiederum erkannte in diesem Wunsch nach einer über den Dingen stehenden Position eine »reaktionäre Geistesverfassung«, von welcher all jene gegenwärtigen Apologet*innen der vermeintlich distanzierten Intellektuellen nicht weit entfernt scheinen. Das Herabfallen der Intellektuellen aus dem Himmelreich der Ideen auf die schlammige Erde war nicht rückgängig zu machen.
Wohin mit Agamben?
Die kritische Distanz, die Intellektuelle wie Agamben für sich reklamieren, kann nicht unter dem Rückzug auf eine vermeintlich neutrale Beobachterposition hergestellt werden, sondern nur durch ein Navigieren im Handgemenge. In diesem positionierte sich Agamben bereits bei Ausbruch der Corona-Pandemie als Kritiker der staatlichen Maßnahmen in Italien, in welchen er die Ausweitung eines von ihm schon lang theoretisierten Ausnahmezustands erkannte. Der Beitrag »Klarstellung«, der im März 2020 veröffentlicht wurde und auch in der »Neuen Zürcher Zeitung« erschien, fasst seine diesbezügliche These zusammen. Für Agamben werden »die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, sogar die Freundschaften, die Gefühle, die religiösen und politischen Überzeugungen« geopfert, um eine Ansteckung mit dem Coronavirus zu vermeiden. Der Ausnahmezustand werde so als Normalzustand etabliert. In Agambens Perspektive hört die Gesellschaft damit auf, eine freie Gesellschaft zu sein: »Wir leben in der Tat in einer Gesellschaft, die die Freiheit zugunsten der sogenannten Sicherheitsgründe geopfert und sich selbst dazu verurteilt hat, in einem ständigen Angst- und Unsicherheitszustand zu leben.«
Agamben scheint mit derartigen Wortmeldungen ganz im Sinne der von Benda ersehnten Rolle von Intellektuellen zu agieren. Die Kritik an den Handlungen der Herrschenden wird im Namen des universellen Wertes Freiheit formuliert. Aber die Freiheit, die er hier reklamiert, ist eben vor allem die »Freiheit zur Individualität«, wie Agambens Bewunderer Gumbrecht dann richtig erkennt. Und in einer Situation der weltweiten Pandemie versteckt sich hinter einer derartigen individuellen Freiheit auch die Abwertung von Sorgearbeit und gegenseitiger Rücksichtnahme.
Aus diesem Grund ist die Anerkennung von Agambens Wortmeldungen im Lager von Verschwörungstheoretiker*innen und rechten Medien nicht überraschend. Aber in Bezug auf sein früheres Werk erzeugt sie doch eine gewisse Ratlosigkeit unter jenen, die Agamben als kritischen Philosophen wertschätzten. Einige, wie etwa der amerikanische Philosoph Benjamin Bratton behaupten, dass sich mit Agambens Perspektive von Diktatur und erfundener Pandemie nun offenbare, was schon immer in seinem Werk angelegt war. Andere bemühen sich, einen Unterschied zwischen Agambens philosophischen Einsichten und seinen tagespolitischen Äußerungen zu machen, um das Werk vor seinem Autor zu retten, wie es etwa die italienische Philosophin Donatella Di Cesare vertritt. Allerdings konzentriert sich diese Diskussion zu sehr auf Agambens Ansehen in der akademischen Philosophie – und diese hat, ganz nebenbei bemerkt, schon deutlich problematischere Gestalten rehabilitiert. Aber statt der Frage, ob Agamben noch zitierfähig ist oder nicht, müsste doch die Frage in den Vordergrund rücken, wie Philosoph*innen überhaupt als öffentliche Intellektuelle emanzipatorisch agieren können.
Verselbstständigtes Denken
An Agamben lässt sich die reaktionäre Folge des Bestehens auf einem abstrakten universellen Wert nachvollziehen. Denn indem er es unterlässt, die Freiheit, die ihm so deutlich abhanden zu kommen scheint, näher zu bestimmen, bleibt sie als diffuser Begriff der konkreten Gegenwart enthoben. In ihrer Studie zum Libertären Autoritarismus bezeichnen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey Agambens Äußerungen während der Corona-Pandemie deshalb als ein Beispiel für ein zwar kritisches Denken, in dem sich aber »die intellektuelle Skepsis zu einem Decodierungssystem verselbstständigt, das ungesteuerte Geschehnisse nach einem einheitlichen Schema entziffert, um die wahre Intention der Macht offenzulegen«. Die individuelle Freiheit wird zum einzig anerkannten Maßstab, bleibt aber zugleich maximal unterbestimmt.
Wo Agamben konkreter wird und aufzählt, was im Zuge der Pandemie vermeintlich geopfert wurde, befremden seine positiven Bezugnahmen auf das Bestehende. Denn »die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, sogar die Freundschaften, die Gefühle, die religiösen und politischen Überzeugungen« sind keineswegs jene Verwirklichungen eines freiheitlichen Lebens, auf die Agamben zu referieren scheint. Jene normalen Lebensbedingungen bringen tagtäglich Menschen zur Verzweiflung und erschöpfen ganz nebenbei die Ressourcen des Planeten. In unsere sozialen Beziehungen ist Herrschaft eingeschrieben, die sich bis in die kleinsten Interaktionen zeigt. Und Arbeit, ob als vergütete Lohnarbeit oder unbezahlte Sorgearbeit, bedeutet in einer kapitalistischen Gesellschaft weiterhin Ausbeutung.
Diese Aspekte verweisen darauf, dass in der Pandemie nicht einfach Freiheit für Sicherheit geopfert wurde. Stattdessen gab es zu Beginn durchaus die Hoffnung, dass durch die Unterbrechung der »normalen Lebensbedingungen« ein Umdenken einsetzen würde, das zu einer emanzipatorischen Transformation beitragen könnte, in der nicht individuelle Freiheit, sondern soziale Freiheit im Vordergrund stünde. Auch wenn sich diese Hoffnung als naiv herausstellte, so lässt sich daran vielleicht aufweisen, welchen Beitrag die Intellektuellen zur öffentlichen Diskussion leisten könnte: Anstatt der Gegenwart nur abstrakte Begriffe von universellen Werten wie Freiheit gegenüberzustellen, könnten sie danach fragen, wo sich gegenwärtig Potentiale von Freiheit finden lassen und durch welche Verhältnisse diese Potentiale blockiert sind.
Die aus dem Ideenhimmel gefallenen Intellektuellen müssten sich mit ihrer Situation abfinden, dass der einzige Ausweg aus der miserablen Gegenwart nur durch diese selbst zu finden ist. Es macht nämlich einen Unterschied ums Ganze, bei wem die eigene Kritik auf Wohlgefallen stößt. Agambens Referenz auf die Freiheit und seine vermeintliche kritische Pose entpuppten sich als Verteidigung des Bestehenden, ohne zu berücksichtigen, inwiefern dieses Bestehende selbst problematisch ist. Das Jammern über den vermeintlichen Verlust sollte der Frage weichen, wie Freiheit für alle unter den gegenwärtigen Bedingungen verwirklicht werden könnte.
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