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Tarifverhandlungen in den USA: Das Ende der Bescheidenheit
Bei den Tarifverhandlungen in der US-Automobilindustrie fordert die Gewerkschaft 46 Prozent mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten und vieles mehr
Jahrzehntelang führten die US-Gewerkschaften Rückzugsgefechte, so auch in der Automobilbranche. Der Organisationsgrad der Beschäftigten nahm ab, gleichzeitig verlagerten die Konzerne zunehmend Werke in die weitgehend gewerkschaftsfeindlichen Bundesstaaten im Süden der USA. Die Zeiten der Defensive scheinen nun aber vorbei zu sein. Mit der Transformation der Branche in Richtung Elektroauto und den milliardenschweren industriepolitischen Plänen Washingtons werden die Karten neu gemischt.
Bei den Tarifverhandlungen stehen die Zeichen nun auf Konfrontation. Das ist nicht unbedingt überraschend, denn Shawn Fain, der neue Chef der UAW, hat offensichtlich nicht vor, halbe Sachen zu machen. Im vergangenen Jahr wurde Fain als Reformkandidat an die Spitze der traditionsreichen UAW gewählt, die den US-Autokonzernen in den 30er und 40er Jahren erstmals Tarifverträge und gewerkschaftliche Repräsentation abrang. Über die Jahre und Jahrzehnte büßte sie jedoch ihre kämpferische Haltung ein. Zuletzt blieben die Lohnerhöhungen deutlich hinter der Inflation zurück. Fain ist mit dem Anspruch angetreten, dies rückgängig zu machen. Und er meint es offensichtlich ernst.
Am Donnerstag reichte die UAW bei der bundesweiten Tarifbehörde, dem National Labor Relations Board (NLRB), Beschwerde gegen General Motors (GM) und Stellantis, dem früheren Chrysler-Konzern, ein: Man habe noch keine Angebote von den Unternehmen erhalten, konstruktive Verhandlungen seien nicht möglich, so Fain. »Die vorsätzliche Weigerung von GM und Stellantis, in gutem Glauben zu verhandeln, ist nicht nur beleidigend und kontraproduktiv, sondern auch illegal«, sagte Fain in einem Livestream auf Facebook. Von Ford liegt hingegen ein Angebot vor, an dem Fain kein gutes Haar ließ: »Fords Lohnvorschläge spiegeln nicht nur unsere Bedürfnisse nicht wider, sie sind beleidigend«, so Fain.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Im Moment sind die Verhandlungen also festgefahren: Am Freitag vergangener Woche stimmten mehr als 95 Prozent der UAW-Mitglieder deshalb dafür, der Gewerkschaftsführung zu erlauben, Warnstreiks durchzuführen. Fain stellte klar, Streiks seien kein Selbstzweck. Ob die Gewerkschaft zu diesem Mittel greifen würde, liege in der Hand der Unternehmen.
Die UAW fordert unter anderem ganze 46 Prozent mehr Lohn, die Wiedereinführung des traditionellen Betriebsrentensystems, eine Indexierung des Lohnniveaus mit automatischer Anpassung an die Inflationsrate, eine Arbeitszeitverkürzung von 40 auf 32 Stunden und zusätzliche Leistungen. »Es scheint, als hätten wir so viele Rückschritte gemacht, dass wir dafür kämpfen müssen, nur die 40-Stunden-Woche zurückzubekommen. Und warum? Nur, dass noch ein Arschloch genug Geld hat, um sich auf den Mond zu schießen?«, kommentierte Fain die ausufernden Arbeitszeiten und die grassierende Ungleichheit in den USA in einem weiteren Livestream.
Nach Angaben des Wirtschaftsdienstes Bloomberg würden sich die Lohnkosten der Autounternehmen dadurch mehr als verdoppeln: Von etwa 64 Dollar auf 150 Dollar pro Stunde. Bloomberg zitiert für seine Berichterstattung Quellen aus Konzernkreisen, die aber anonym bleiben möchten. Sie gaben an, die Forderungen der Gewerkschaft könnten sämtliche Profite der Autokonzerne zunichtemachen und die Zukunft der Industrie in ganz Nordamerika gefährden – die UAW repräsentiert auch Beschäftigte in Kanada.
Natürlich verfolgen die Unternehmen mit solchen Verlautbarungen immer eine eigene Agenda: Die Forderungen der UAW sind deren Ausgangsposition für Verhandlungen, es ist unwahrscheinlich, dass sie unverändert umgesetzt werden. Allerdings stehen die US-Autokonzerne nach der Coronakrise gut da: Die Preise für Neu- und Gebrauchtfahrzeuge sind deutlich angestiegen, die Nachfrage übersteigt das Angebot, die Gewinne sind so hoch wie lange nicht mehr. »Rekordprofite bedeuten Lohnabschlüsse in Rekordhöhe«, fasste ein Sprecher der UAW die Haltung der Gewerkschaft vergangene Woche zusammen: Man wolle lediglich am Erfolg der Unternehmen angemessen beteiligt werden.
Die hohen Lohnforderungen der UAW sind wohl auch als Ausgleich für jahrzehntelange Lohnzurückhaltung gedacht: Vor allem nach der Finanzkrise von 2008 stimmte die Gewerkschaft schmerzhaften Sparmaßnahmen zu, denn die US-Autokonzerne standen damals vor dem Aus, General Motors befand sich zeitweilig unter Insolvenzverwaltung. Vor allem eine Maßnahme wirkte besonders demoralisierend auf die Beschäftigten: Die Einführung eines Staffeltarifs, der für neu Eingestellte deutlich niedrigere Löhne vorsieht als für die Stammbelegschaften. Dies führte dazu, dass in US-Automobilwerken heute Arbeiterinnen und Arbeiter nebeneinander am Band stehen und für die gleiche Tätigkeit teils dramatisch unterschiedlich bezahlt werden. Langjährige Beschäftigte erhalten teils das doppelte Entgelt ihrer jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Für die Solidarität innerhalb der Gewerkschaft ist das Gift, die Regelungen sind aber selbst bei vielen der Beschäftigten unbeliebt, die davon profitieren. Eine der wichtigsten Prioritäten der Gewerkschaft ist daher die Abschaffung des Staffelsystems, das für die Konzerne ein entscheidendes Instrument war, um die Löhne nach der Krise zu drücken. »End Tiers« – »Schluss mit Staffeln« – steht auf dem T-Shirt, das Fain bei Veranstaltungen trägt.
Auch der technische Wandel in der Automobilindustrie beschäftigt die UAW. Man wisse, dass der Trend hin zur Elektromobilität sich nicht aufhalten lasse, so der UAW-Gewerkschafter Dan Vicente im Wirtschaftspodcast »Odd Lots«. In der Tat wandelt sich die Industriestruktur der USA derzeit rasant: Förderprogramme der Bundesregierung sorgen dafür, dass im ganzen Land neue Produktionsstätten für die Elektronik- und Automobilindustrie sowie für erneuerbare Energietechnologien entstehen. Durch die Gründung von Tochtergesellschaften beispielsweise für die Batterieproduktion versuchen die Konzerne, die Tariflöhne im klassischen Automobilsektor zu umgehen. Die UAW will das nicht einfach zulassen und kann erste Erfolge vorweisen: Am Werk des Batterieherstellers Ultium Cells in Lordstown, Ohio – einem Joint Venture von General Motors und dem Batterieproduzenten LG – stimmten die Beschäftigten am vergangenen Sonntag einem Tarifvertrag zu, der ihre Löhne um bis zu vier Dollar pro Stunde erhöht. »Die UAW wird weiter kämpfen, um in allen Batteriewerken dieselben hohen Löhne und Sicherheitsstandards zu erreichen, wie sie Generationen von Autobauern bei GM, Ford und Stellantis erfolgreich eingefordert haben«, so Fain.
Auch in anderen Sektoren der US-Wirtschaft geben sich die Gewerkschaften kämpferisch. Beim Logistikkonzern UPS erstritt die Gewerkschaft International Brotherhood of Teamsters deutliche Lohnerhöhungen. Vor allem für die bisher prekär beschäftigten Teilzeitkräfte sind die Verbesserungen spürbar – sie erhalten laut Angaben der Gewerkschaft durchschnittlich 48 Prozent mehr Lohn in den nächsten fünf Jahren. In den Fahrzeugen der Paketboten müssen außerdem in Zukunft Klimaanlagen eingebaut werden. Außerdem wird das Staffelsystem, das es auch bei UPS gibt, abgeschafft. Die Verpflichtung, Überstunden zu leisten, entfällt.
Ob auch die traditionell weniger stark organisierten Sektoren und Unternehmen der US-Wirtschaft durch die jüngsten Erfolge der Gewerkschaften endlich bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sehen werden, steht noch nicht fest. Beschäftigte von Amazon und Starbucks warten immer noch auf Tarifverträge. Vor kurzem erließ das NLRB neue Regeln, die die Gründung von Gewerkschaften deutlich erleichtern werden: Arbeitsstätten müssen Gewerkschaften künftig anerkennen, wenn eine Mehrheit der Beschäftigten dies beantragt. Abstimmungen darüber sind nur noch notwendig, wenn die Unternehmen die Etablierung anfechten. Dies räumt wesentliche Hürden für Neugründungen aus dem Weg, da die Urabstimmungen oft dafür missbraucht wurden, die Beschäftigten einzuschüchtern.
Noch bedeutender: Wenn es im Vorfeld von Abstimmungen zur Einmischung oder Unregelmäßigkeiten von Seiten der Unternehmen kommt, gewinnt die Gewerkschaft automatisch. »Union Busting«, also die Vereitelung der Organisierung, wird dadurch erheblich erschwert. Sollten die neuen Regelungen vor Gericht Bestand haben, würde sich das Kräfteverhältnis deutlich zugunsten der Beschäftigten verschieben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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