• Kultur
  • Sommerserie »Food for Thought«

Mens sana in mensae

Food for Thought (Teil 9): Ein Streifzug ein von Universitätsmensen geprägtes Leben

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 7 Min.
München, 2004: Die Oversized-Lederjacke mit schmaler Brille findet man heute eher in den Kantinen der Berliner Humboldt-Uni.
München, 2004: Die Oversized-Lederjacke mit schmaler Brille findet man heute eher in den Kantinen der Berliner Humboldt-Uni.

Im Leben akademischer Lehrer*innen und Forscher*innen ist die Hochschulkantine ein höchst realer Chronotopos. Dieser Text erzählt von solchen Raum-Zeit-Ordnungen, die für den Autor lebensgeschichtlich bedeutsam waren.

Würzburg. Ist die Mittagspause lang genug, gehen meine Kolleg*innen, allesamt Designer*innen, in Würzburger Restaurants. Ich gehe in die Mensa. Dort, behaupte ich, fühle ich mich 40 Jahre jünger. Es gibt noch einen anderen Grund für die mittägliche Schrulle; dazu später mehr. – Die Speisen in der Mensa sind vorzüglich, süddeutsch-schmackhaft oder vegan und reizvoll gewürzt. Inzwischen werden die Portionen kleiner; wer richtig satt werden möchte, muss für Extrabeilagen bezahlen.

Food for Thought

In unserer diesjährigen Sommerreihe widmen wir uns der Kulinarik – in ihrer sinnlichen, sozialen und politischen Dimension.

Florenz. Im Frühjahr 1981 kostet das Mittagessen in der Mensa 8000 Lira, vier DM. Es gibt, landestypisch, zwei Gänge. Primo piatto: Pasta, secondo piatto: Fleisch oder Fisch und Gemüse. Dazu Weißbrot und Wein oder Bier; Wasser ist gratis. Danach Dessert, Obst oder Käse. Letzterer ein halbes Pfund, in Cellophan. Wenn man den einsteckt und das Weißbrot nicht verputzt, hat man sein Abendessen in der Tasche. So kann ich lange in der Stadt leben, bevor Ebbe in der Reisekasse ist. – Am Ende des Abräumbands warten Mittellose, die sich Essbares von den Tabletts nehmen. Niemand macht Anstalten, sie zu vertreiben. Katholische Mildtätigkeit, die die Armen arm sein, aber immerhin in Ruhe lässt?

Hamburg. »Ich weiß, woher du kommst«, sagt Anfang der 1980er Jahre ein Germanistik-Tutor am Mensatisch zu mir. Klingt das bedrohlich? Als Sohn eines Benjamin-Herausgebers hat man es am literaturwissenschaftlichen Seminar nicht immer leicht. Ein älterer, verkrachter Schüler von Karl Robert Mandelkow erzählt mir, warum der (auch in der DDR) hochgeachtete Goethe-Forscher sich einst von Adorno abwandte: Er war ein begabter Jazzgitarrist und konnte Adorno den Jazz-Artikel im »Merkur« nicht verzeihen. – Das Essen ist auf ein spartanisches Publikum ausgerichtet. Es gibt Würstchen mit Linsen und Spätzle. Mir kommt diese Zusammenstellung absurd vor. Jahre später entdecke ich, wie köstlich das Gericht sein kann. Meine Lebensgefährtin hat es von ihrer Mutter aus dem Württembergischen zubereiten gelernt. Dazu ein leichter, transparenter Lemberger – darüber geht eigentlich nichts.

Paris. Ein Hamburger Kommilitone setzt sein Philosophiestudium an der Sorbonne fort. Er nimmt mich mit in die Abendmensa. Im Speisesaal bröckelt der Putz von den Wänden, mitleidlos beleuchtet von nackten Neonröhren. Das Essen wird aus verbeulten Blechschüsseln gegessen, die dünnen Blechbestecke sind verbogen. Es schmeckt so, wie ich mir den Fraß vorstelle, den die Knastbrüder in alten Gefängnisfilmen bekommen, kurz bevor der Aufstand beginnt.

Lüneburg. Während der Arbeit an der Dissertation wohne ich wieder in meiner alten Dachwohnung. Der zu-Klampen-Verlag zieht aus, meine Lebensgefährtin zieht ein. Mittags gehen wir über die Straße in die kleine Uni-Mensa. An Freitagen gibt es oft frittierten Tintenfisch. Die Calamares-Stücke erinnern in Größe und Konsistenz an Dichtungsringe aus der Badezimmerinstallation. Mein Weißkohlsalat knackt eines Tages ungewöhnlich laut zwischen den Zähnen. Ich finde einen zentimeterdicken Glassplitter im Mund. Die Küchenmitarbeiterin erbleicht; auf der Anrichte war ein Schälchen heruntergefallen, das Team hat offenbar doch nicht alle Spuren beseitigt. – Anfang der 1990er berichtet Christoph Türcke mir beim Mittagessen von seinem Ruf nach Leipzig und erzählt von der Hochschule für Grafik und Buchkunst.

Weimar. Im Gegensatz zur Gestaltungsfakultät, wo ich als Assistent von Olaf Weber lehre, ist das Essen in der Mensa eine schlimme, jahrelange Enttäuschung. Details? Hier schweigt des Sängers Höflichkeit. Aber der Ausblick in den Ilmpark und auf das Liszt-Haus entschädigt für alles. Das Mensagebäude ist gelungene Architektur der DDR. Hier plane ich beim Mittagessen mit Jörg Gleiter und Friederike Pfromm gemeinsame Seminare über Architektur und Ästhetik. Während eines Bauhaus-Kolloquiums bietet mir Bruno Flierl das »Du« an. Im Sommer 2002, es ist mein letztes Weimarer Semester, fantasiert Jean Baudrillard in dem von Tischen leergeräumten Saal über den 11. September 2001.

Durham, North Carolina. Am 11. September 2001 lehre ich als Visiting Professor an der Duke University. Die Kantine ist teuer, weil privat und subventionslos betrieben. Wie können sich die Studierenden das leisten? Sie müssen übers Jahr so viele Studiengebühren berappen, wie man mir für ein Semester als Gastprofessor zahlt. In der Cafeteria unterhalte ich mich mit meinem Büronachbarn Michael Hardt. Die Kommunikation zwischen Deleuzianer und Adorno-Spezialistem gelingt nicht wirklich. Dass der Frauenverein der Universität Michael und Tonio Negri wegen »Empire« für die Attentate am 11. September verantwortlich machen will, ist freilich ein weitaus heftigeres Missverständnis. – Ein Treffen mit Fred Jameson und Slavoj Žižek findet abends im Restaurant statt, nicht in der Mensa. Slavoj bestellt keinen Wein. Er schwärmt von einem Getränk, das er in Deutschland kennengelernt hat: Apfelschorle.

Belo Horizonte. Rodrigo Duarte erzählt während eines Forschungsprojekts, dass die kritischen Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen, die täglich im Bus auf dem Campus eintreffen, fakultätsintern die massa critica genannt werden. Meine Lebensgefährtin erklärt mir, dass das eigentlich ein Terminus aus der Physik ist. Das Essen wird an der Kasse por kilo abgerechnet, egal, was man sich aufs Tablett geladen hat. Rodrigo, der in Kassel promoviert hat, schlägt vor, danach einen cafezinho zu trinken. Er übersetzt das korrekt mit ein Käffchen. Wir haben diesen Ausdruck seit Kindertagen nicht mehr gehört und freuen uns.

Bozen. Gießt man bei Tisch nicht noch eimerweise Öl über die trostlose Pasta, schmeckt sie nach gar nichts. – Der Gründungsdekan der Fakultät für Design und Künste fordert die Universitätsleitung auf, die Ausgabe von Wein und Bier in der Mensa zu untersagen. Unserem alkoholkranken Kollegen, der nachts grölend durch die Stadt irrt und im Unterricht manchmal zusammenbricht, wäre damit aber nicht geholfen, er geht nie in die Mensa. Ich halte es zwei Jahre in Bozen aus und bitte dann in Würzburg um vorzeitige Beendigung meiner Beurlaubung.

Kassel. Wenn ich in der Mittagspause meines Kritische-Theorie-Seminars in der Mensa sitze, muss ich an eine Geschichte mit dem legendären Subkultur-Forscher Rolf Schwendter denken, die Christoph Türcke mir erzählt hat. Als der rauschebärtige, »stets auffällig unangepasst Gekleidete« (Wikipedia) einmal an der Essensausgabe wartet, wird ihm beschieden, er solle das Gebäude verlassen. Man ist wohl der Ansicht, dass Penner in der Mensa nichts zu suchen hätten. Schwendter macht wortlos kehrt, findet nach einigem Herumkramen im Büro seine Ernennungsurkunde, begibt sich wieder in die Mensa, zeigt lächelnd die Urkunde vor und widmet sich wenig später mit Genuss seiner Mahlzeit.

Frankfurt. Anfang der 1950er Jahre wird meinem alten Herrn sein erstes Gehalt als Assistent am Institut für Sozialforschung geklaut – in der Mensa. Die Kolleg*innen sammeln für ihn; ob Horkheimer, der »Millionär« (B. Brecht), aus seiner privaten Portokasse etwas dazutut, weiß ich nicht mehr. – Manchmal geht die Clique nicht in die Mensa, sondern ins Lokal »Mutter Pillock«. Die Chefin ist dafür berühmt, dass sie, das Tablett in der Hand, sich scheinbar suchend in der Gaststube umsieht und laut ruft: »Wo ist der Professor mit dem Schweinebauch?«

Fazit. Selbstbefragung bringt an den Tag, dass ich gern in die Mensa gehe, weil ich mich nicht am Tisch bedienen lassen mag. Es fühlt sich besser an, das Essen selbst zu holen und das Geschirr zurückzutragen. In einem Verein freier Menschen würde man sich wohl kaum bedienen lassen. – Solange wir unsere Mahlzeiten in einer Klassengesellschaft einnehmen, ist dem Servicepersonal in der Gastronomie, das bekanntlich auf Trinkgelder angewiesen ist, mit solchen Betrachtungen allerdings nicht geholfen. Vielleicht gehe ich im Wintersemester ja doch mal mit den Kolleg*innen ins Restaurant.

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