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»Bildungswende jetzt!«
Bündnis fordert Sondervermögen von 100 Milliarden und ruft zum Protest auf
Das deutsche Bildungssystem steckt in einer tiefen Krise – es mangelt an fast allem, ganz besonders an Lehrkräften und Erzieher*innen. Bis 2035 werden bundesweit 160 000 Lehrer*innen fehlen, in den Kitas bräuchte es schon jetzt 300 000 neue Erzieher*innen, wie aus Erhebungen des Verbands Bildung und Erziehung hervorgeht. Die Folgen sind erschreckend: Etwa jedes vierte Kind in Deutschland kann nach Abschluss der vierten Klasse nicht richtig lesen – eine dramatische Verschlechterung im Vergleich zur Vorgängergeneration. Das Bündnis »Bildungswende jetzt!« fordert ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro und ruft in allen deutschen Großstädten zum Protest auf.
Bildungsnation? Fehlanzeige
In Sachen Bildung – wie auch in anderen Bereichen – fährt die Ampelregierung bestehend aus SPD, Grüne und FDP zurzeit einen strengen Sparkurs: Der Etatentwurf des Bildungsministeriums für den Haushalt 2024, der diese Woche im Bundestag diskutiert wird, sieht Kürzungen von 1,2 Milliarden Euro im Bildungsbereich vor. Damit wird das Ziel der Bundesregierung, zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildungsausgaben zu verwenden, im nächsten Jahr erneut verfehlt. Schon seit 2015 hätte dieses unter Bundeskanzlerin Angela Merkel vereinbarte Ziel jährlich erreicht werden sollen. Bisher ist das kein einziges Mal gelungen.
Und auch für den »Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung«, den die Große Koalition 2017 verabschiedete, bräuchte es mehr Geld. Der an ein Konzept der Unesco angelehnte Plan sieht vor, Kinder und Jugendliche auf Herausforderungen des 21. Jahrhundert wie zum Beispiel die Klimakrise und die sich ausweitende globale Ungerechtigkeit vorzubereiten. Laut einer Studie der Initiative »Bildung für nachhaltige Entwicklung« müsste die Bundesregierung bis 2035 zusätzlich 16 Milliarden Euro in das Programm investieren.
Im Vergleich mit anderen Ländern hinkt Deutschland in Sachen Bildung ebenfalls massiv hinterher: Wollte die selbsternannte »Bildungsnation« beispielsweise mit dem europäischen Spitzenreiter Norwegen gleichziehen, müsste die Bundesregierung den Etat um rund 50 Prozent, also etwa 120 Milliarden Euro, steigern.
Mit 100 Milliarden aus der Bildungskrise
Das Bündnis »Bildungswende jetzt«, ein Zusammenschluss von über 170 Bildungsorganisationen, Eltern- und Schülervertreter*innen und Gewerkschaften, setzt sich deshalb für eine sofortige Umkehr der deutschen Bildungspolitik ein. »Statt einer Bildungskrise brauchen wir dringend eine Bildungswende«, wie Philipp Dehne von der Kampagne »Schule muss anders« bei einer Pressekonferenz am Donnerstag erklärte. Dafür müsse Deutschland endlich mehr Geld investieren.
»Ständiger Stundenausfall in der Schule, fehlende Krippenplätze – all das sind Herausforderungen, die direkt in die Familie hineingehen und Eltern oft enorm überfordern,« wie Dehne mit eindringlicher Stimme bemängelte. Sozial benachteiligte Haushalte seien von solchen Lücken am meisten betroffen.
Zusätzlich zur Einhaltung des Zehn-Prozent-Zieles fordert das bundesweit organisierte Bündnis ein einmaliges Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro als Anschubfinanzierung für eine umfangreiche Bildungswende. »Beides kann und muss jetzt im Haushalt festgeschrieben werden«, so Dehne.
Diese Mittel sollen zum einen dazu dienen, den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026 zu gewährleisten. Für den Ausbau des Ganztagsangebots würden Investitionskosten in Milliardenhöhe anfallen, so Dehne. Zudem solle das Sondervermögen in eine Ausbildungsoffensive für Lehrer*innen und Erzieher*innen fließen, um dem massiven Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Auch den Sanierungsstau, den die KfW aktuell auf über 45 Milliarden Euro schätze, könne man so beenden. »Beide Maßnahmen sorgen für mehr Chancengleichheit, insbesondere für Kinder aus armen Familien,« so Maike Finnern, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Janne Schmidmann, Schülerin aus Bremen und Bündnismitglied, kritisierte bei dem Pressetermin außerdem, der Mangel an Lehrkräften habe für Schüler*innen mit erhöhtem Förderbedarf besonders gravierende Folgen. Fielen beispielsweise Lehrpersonen aus, seien es an ihrer Schule meistens die Fördergruppen, die als erste nach Hause geschickt würden. »Das Thema Inklusion wird in Deutschland mit Füßen getreten«, so die 15-Jährige. Inklusion heiße, dass jede*r ein Recht auf Bildung habe, als vollwertiges Mitglied, angepasst an die individuellen Bedürfnisse. »Dafür brauchen wir aber eine andere Haltung in der Gesellschaft!«
Auf die Straße zum bundesweiten Bildungsprotest
Mit zahlreichen Demonstrationen und Aktionen in Berlin, Köln, München, Hamburg, Leipzig und weiteren Städten will das Bündnis »Bildungswende jetzt!« am 23. September auf das Thema aufmerksam machen. Hessen wird zuvor als einziges Bundesland bereits am Weltkindertag, dem 20. September, den Auftakt zum bundesweiten Bildungsprotest machen, an dem Eltern, Schüler*innen und Beschäftigte aus Schule und Kita in den anderen Bundesländern auf die Straße gehen.
Der Bildungsappell umfasst vier zentrale Forderungen an Olaf Scholz und seine Regierung: Erstens sollen Schulen und Kitas, anders als im bisherigen Bildungssystem, zukunftsfähig und inklusiv gestaltet werden. Zudem soll es eine Ausbildungsoffensive für Lehrer*innen und Erzieher*innen geben, die durch das Sondervermögen und die Zehn-Prozent-Quote finanziert werden soll. Außerdem fordert das Bildungsbündnis einen Bildungsgipfel mit Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft und der Bildungspraxis.
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