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»Memory Studies«: Erinnern als Wissenschaft
Wie blicken Gesellschaften auf ihre Vergangenheit? Diese Frage stellt sich das Forschungsfeld der Memory Studies
In Newcastle upon Tyne spielt Erinnerung eine wichtige Rolle: Die nordenglische Stadt ist bis heute stolz auf ihre Vergangenheit als Kohle- und Industriemetropole mit einer starken Arbeiter*innenklasse – auch wenn im heutigen Stadtbild von diesem Erbe nur noch wenig zu sehen ist. Anders als viele ehemalige Kohleabbaugebiete im Norden Englands hat Newcastle den Sprung aus der Krise geschafft und ist heute vor allem für seine Universität und ein pulsierendes Nachtleben bekannt.
An eben dieser Newcastle University fand Anfang Juli unter dem passend zur Stadt ausgewählten Motto »Communities and Change« die jährliche Konferenz der Memory Studies Association (MSA) statt. Während die Memory Studies – zu deutsch Erinnerungs- oder Gedächtnisstudien – in Deutschland noch eher ein Nischendasein fristen, sind sie international mittlerweile recht etabliert, wie die Anwesenheit von fast 900 Teilnehmer*innen aus der ganzen Welt auf der Konferenz verdeutlichte.
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Doch womit beschäftigt sich das Forschungsfeld eigentlich? Der Fokus der Memory Studies liegt auf der sozialen Funktion von kollektiver Erinnerung, angesiedelt im Bereich der Sozialwissenschaften im weitesten Sinne, aber stark interdisziplinär ausgerichtet. Viele Forschende kommen aus Fächern wie Geschichte, Politik, Soziologie und Kulturwissenschaften. Aber auch in Literatur- und Medienwissenschaften spielt das Thema Erinnerung mittlerweile eine Rolle und man trifft sogar die vereinzelte Geograph*in, die dazu forscht. Überschneidungen mit naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich auf neurologischer Ebene mit der Funktion von Erinnerung beschäftigen, gibt es bisher allerdings nur wenige.
Das Gestern im Heute
Anders als in der klassischen Geschichtswissenschaft geht es in den Memory Studies nicht um die Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern darum, wie mit der Vergangenheit in der Gegenwart und mit Blick auf die Zukunft umgegangen wird. Anders gesagt: Der Forschungsbereich untersucht die Bedeutung, die der Vergangenheit im Heute gegeben wird. Dieser im engeren Sinne sozialwissenschaftliche Teil der Memory Studies richtet das Hauptaugenmerk auf die gesellschaftlichen Machtbeziehungen, die das Feld der Erinnerung strukturieren.
Im deutschen Diskurs konnte man bis vor wenigen Jahren den Eindruck gewinnen, Erinnern sei per se etwas Positives – Stichwort »Deutschland als Aufarbeitungsweltmeister«. Dabei wurde nicht selten so getan, als wäre Erinnerung neutral und eben frei von Machtbeziehungen; Hauptsache, man erinnert irgendetwas. Doch Erinnerungspraxen sind immer politisch. So wird etwa nicht alles erinnert und dasselbe Ereignis kann aus sehr unterschiedlichen Perspektiven erinnert werden. Die Frage, aus welchem Bewusstsein heraus und mit welchem Ziel erinnert wird, ist hier von zentraler Bedeutung – und genau damit beschäftigen sich die Memory Studies.
So ist es etwa kein Zufall, dass in Deutschland die Erinnerung an Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit den bürgerlichen Namen Graf von Stauffenberg und Sophie Scholl verknüpft ist und nicht etwa mit Georg Elser oder Herbert Baum, also Kommunist*innen oder Jüd*innen. All diesen Widerstand gab es, aber erinnert wird nur der eine – nicht aus moralischen Gründen, sondern weil es politischen Zwecken dient: Nur der bürgerliche Widerstand ermöglicht eine Rechtfertigung bundesrepublikanischer Politik nach 1945, die der Journalist Eike Geisel auf die Formel »Wiedergutwerdung der Deutschen« brachte.
Mit der Verschränkung von Erinnerung und Politik beschäftigt sich auch Susannah Eckersley, Professorin an der Newcastle University und Mitorganisatorin der MSA-Konferenz. In ihrem aktuellen, binationalen Forschungsprojekt »Cultural Dynamics: Museums and Democracy« untersucht sie den Zusammenhang von Demokratie und Museen im deutsch-britischen Vergleich. »Es geht um die Art und Weise, wie sich die Idee des Museums selbst verändert, so wie sich Großbritannien und Deutschland verändern und wie sich die Demokratie verändert. Warum sind die Museen in beiden Ländern so, wie sie sind? Uns interessiert, wie die politische Geschichte des Landes, gerade auch die NS-Zeit in Deutschland, die Idee des Museums geprägt hat«, so Eckersley.
Museum und Nationalstaat
Gerade Museen sind Orte, an denen Kollektive sich ihrer selbst versichern, allen voran der Nationalstaat. Auch wenn die klassischen Nationalmuseen mit ihren strahlenden Heldenerzählungen vielerorts ausgedient haben, bleiben sie Räume, die Vergangenheit auf eine bestimmte Art und Weise erzählen. Vergleicht man etwa Holocaust-Museen weltweit, wird deutlich, welche Rolle der nationale Kontext spielt. Es geht um das gleiche Ereignis, aber der Fokus der Ausstellungserzählung ist stets ein anderer.
In Yad Vashem in Jerusalem spitzt sich das Narrativ der Ausstellung auf die Entstehung des jüdischen Staates zu, der als Antwort auf den Holocaust gelesen wird. Im Jüdischen Museum in Berlin wird hingegen der Fokus auf Vergebung und die allgemeine Bedeutung von Menschenrechten gelegt, während im Holocaust-Museum in Washington D.C. die Frage, warum die Alliierten Auschwitz nicht bombardiert haben, eine viel größere Rolle einnimmt als in den meisten europäischen Holocaust-Museen. In den drei Fällen werden also sehr unterschiedliche »Lehren« aus dem Holocaust gezogen – die Notwendigkeit, sich verteidigen zu können, die Notwendigkeit, vergeben zu können und die Notwendigkeit, einzugreifen. Diese angeblich notwendigen Lehren passen nicht unbedingt zusammen und die Herausarbeitung solcher Ambivalenzen von Erinnerung ist ein wichtiger Aspekt der Memory Studies. Im Alltag wird jegliche Ambivalenz wiederum häufig ausgeblendet, Geschichte wird allzu oft noch immer als etwas Gegebenes verstanden, über das es genau eine Erzählung gibt. Dass Geschichte auch immer die Geschichte der Herrschenden ist, wird dabei ausgeblendet.
Das zeigt sich auch im Verständnis des Museums als vielleicht wichtigster Institution bezüglich der Geschichtsvermittlung und Erinnerung. Museen gelten gerade auch in Deutschland als Lernorte, denen Autorität zugeschrieben wird. »In den Memory Studies begreifen wir hingegen Museen und Erinnerungsorte generell als soziale Orte. Beim Selbstverständnis der Museen ist der Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien interessant: Im Vereinigten Königreich gibt es schon länger dieses Verständnis des Museums als soziale Institution, in Deutschland wandelt es sich erst langsam in diese Richtung. Viele, wenn auch nicht alle deutschen Museen, gehen noch immer von der Perspektive aus, jemandem etwas beibringen zu müssen. Sie verstehen sich als Expert*innen, die ihre Konzepte an die Öffentlichkeit vermitteln, eine klassische Top-Down-Perspektive. In Großbritannien gibt es eine egalitärere Vorstellung von Wissen, Museen setzten auf Austausch und Partizipation«, so Eckersley. Natürlich seien Museen Lernorte, aber es gelte dennoch, ihre Ausrichtung und Perspektive zu reflektieren.
Gefragt nach dem Stand der deutschen Erinnerungskultur meint Eckersley, die seit 20 Jahren zu Museen in Deutschland forscht: »Aus der Außenperspektive verwundert es manchmal, welche Perspektiven in der etablierten deutschen Erinnerungskultur unter den Tisch fallen. Allerdings befinden sich Museen und die Erinnerungskultur in Deutschland gerade in einem Wandel, es ist eine spannende und wichtige Zeit. Gerade gibt es das Potential, die Diskussion zu öffnen und um bisher unbeachtete Perspektiven zu erweitern. Ich hoffe sehr, dass es genutzt wird.«
Kein Geld für Gegenerzählungen
Zurück in Newcastle kann man einen weiteren Kampf um Erinnerung und Perspektiven beobachten: Während die Industriegeschichte der Stadt touristisch vermarktet wird, musste Anfang April 2023 mit der Side Gallery eine lokale Institution der »Geschichte von unten« schließen. Die Galerie wurde 1977 von dem Film- und Fotografiekollektiv Amber Collective gegründet, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Lebenswelten von Arbeiter*innen und anderen Marginalisierten zu dokumentieren. 45 Jahre lang war die Galerie ein zentraler Ort für dokumentarische Film- und Fotokunst mit politischem Anspruch in Nordengland. Der partizipative Aspekt, den Susannah Eckersley beschreibt, war auch dort zu spüren: Die Galerie setzte einen Schwerpunkt auf Austausch und verstand sich als ein Ort, an dem die lokale Community zusammenkommen konnte. Von der Dokumentation des Bergarbeiterstreiks in den Jahren 1984 und 1985 über feministische Kämpfe bis zu einer Ausstellung zu »vergessenen« Orten des Holocausts waren die Ausstellungen nie linear von oben konzipiert, sondern entstanden immer im Dialog, mit dem Anspruch, Dinge zu verändern.
Nun ist die Side Galerie von den massiven Kürzungen betroffen, die die britische Regierung im Bereich der Kulturförderung vorgenommen hat und unter der die gesamte Museumslandschaft in Großbritannien leidet. Der Wegfall der staatlichen Förderung sowie steigende Energiekosten zwangen die Galerie letztlich zur Schließung, eine Crowdfunding-Kampagne soll dieses wichtige »Archiv von unten« nun retten. Für die »Communities and Change«-Konferenz öffnete die Side Gallery aber auch jetzt noch einmal ihre Türen: mit der Ausstellung »A Wounded Landcape«, die Zeitzeug*innenberichte und »vergessene« Orte des Holocaust in ganz Europa dokumentiert und danach fragt, was an diesen Orten eigentlich heute politisch passiert. Denn Erinnerung ist immer nur so gut, wie die Konsequenzen, die aus ihr gezogen werden.
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