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A. Dirk Moses: Von der Rechtfertigung zum Theorem

Der australische Historiker Dirk Moses will den Begriff des Genozids mit dem Konzept der »dauernden Sicherung« ersetzen, das er vom SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf übernimmt. Das geht ausgesprochen fehl.

  • Tom Uhlig
  • Lesedauer: 5 Min.
SS-Führer Otto Ohlendorf vor dem Internationalen Militärgericht in Nürnberg. Er rechtfertigte die eigenen Mordtaten mit dem Begriff der »dauernden Sicherung«.
SS-Führer Otto Ohlendorf vor dem Internationalen Militärgericht in Nürnberg. Er rechtfertigte die eigenen Mordtaten mit dem Begriff der »dauernden Sicherung«.

Dem deutschen Publikum ist A. Dirk Moses vor allem bekannt geworden durch den wohl schrillsten Beitrag im sogenannten Historikerstreit 2.0. In einem Schweizer Online-Magazin geißelte Moses den erinnerungspolitischen Umgang mit der Shoah als »Katechismus der Deutschen«. Dessen Verteidiger*innen würden als »Hohepriester« Kritik mit Methoden abwehren, die an »Häresieprozesse« erinnerten. Die religiöse Bildsprache von Moses war unter anderem deshalb so skandalös, weil sie der neonazistischen Rede von der »Holocaust-Religion« ähnelt. Der Unterschied besteht darin, dass Neonazis mit dieser Sprache die historische Wahrheit der Shoah leugnen, während Moses lediglich der Erinnerung daran einen irrationalen Furor unterstellte.

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Möglicherweise hat sich Moses die Kritik an mangelnder Sprachsensibilität zu Herzen genommen, denn sein neues schmales Buch »Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur« kommt zurückhaltender daher. Moses’ Ausgangspunkt ist seine Kritik am Begriff Genozid oder Völkermord. Moses zufolge dient »das Gerede vom Genozid […] ideologisch oft dazu, von der systematischen Gewalt abzulenken, die von Regierungen jedweder Art gegenüber Zivilist*innen ausgeübt wird«. Es beunruhige ihn, »wie es die entpolitisierende Wirkung des Völkermordkonzepts Staaten ermöglicht, Zivilist*innen im Namen der Staatsräson legal zu töten«. Um die zivilen Opfer von Kriegsverbrechen diskursiv zu integrieren, schlägt Moses den etwas sperrigen Begriff der »dauernden Sicherung« vor.

Das Konzept übernimmt Moses naiv vom SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, der damit im Verhör die eigenen Mordtaten rechtfertigte. Ohlendorf war Leiter der Einsatzgruppe D und damit verantwortlich für die Ermordung von rund 90 000 Menschen in der Südukraine und im Kaukasus. Ihm zufolge war der Zweck der Mordtaten die »dauernde Sicherung«. Moses beteuert zwar, es gehe ihm nicht darum, Ohlendorfs Perspektive anzunehmen, sondern »das Konzept gegen ihn und seinesgleichen zu wenden« – doch dieses Unterfangen misslingt. Zwar kommt der Autor selbstverständlich zu einer anderen moralischen Bewertung als Ohlendorf und macht im Motiv der »dauernden Sicherung« einen paranoiden Charakter aus. Jedoch hält er an dessen Überzeugungskraft fest. Der Historiker Stephan Malinowski hat in seiner Rezension des Buches in der »FAZ« bereits eine »verblüffende Vermengung von Quellen- und Analysesprache« ausgemacht. Anstatt sie kritisch zu befragen, werden Schutzbehauptungen eines SS-Mitglieds zu einem Mittel geschichtswissenschaftlicher Analyse.

Was macht nach Moses nun »dauernde Sicherung« aus? Moses identifiziert drei Elemente: die Verdinglichung von Gruppen zu unterschiedslosen Kollektivsubjekten, Präemption, das heißt eine aktive Vorbeugung möglicher oder eingebildeter Bedrohungen, und Paranoia. Mit dem letzteren Element kassiert dann Moses auch wieder den Grund, warum man das Konzept der »dauernden Sicherung« angeblich benötige. Stellt er vorher der Irrationalität des Völkermordes die »dauernde Sicherung« als politisches Konzept entgegen, dringt nun mit der Paranoia, also wahnhaften Verfolgungsängsten, die Sozialpsychologie wieder ins Konzept ein. Nicht ohne Grund: Völkermorde sind ohne Bezug auf (unbewusst) irrationale Motive schlicht nicht begreifbar.

Das bleibt nicht die einzige Inkonsistenz in Moses’ Argumentation. Wohl weil es intuitiv Sinn ergibt, zwischen vollständiger Vernichtungsdrohung und willfähriger Ermordung von Zivilist*innen in Kriegsverbrechen zu unterscheiden, zieht Moses diese Differenz selbst wieder in den Begriff der »dauernden Sicherung« ein. Er unterteilt zwischen liberaler und antiliberaler »dauernder Sicherung«, was den Begriff nicht unbedingt handlicher macht: »Antiliberale dauernde Sicherung hat die vorsorgliche Tötung vermeintlich künftiger Bedrohungen für eine bestimmte Ethnie, Nation oder Religion innerhalb eines begrenzten ›Territorialgebiets‹ zur Folge« – man könnte auch »Völkermord« dazu sagen. Im Gegensatz dazu stelle sich die liberale »dauernde Sicherung« die ganze Welt »als dasjenige Territorium vor, das im Namen der ›Menschheit‹ gesichert werden soll« – ein Beispiel dafür sei der »War on Terror«. Der Begriff wurde nach dem 11. September 2001 von der Bush-Regierung für den Kampf sowohl gegen terroristische Vereinigungen als auch gegen Staaten, die Terrorismus unterstützen, lanciert.

Moses’ präferierter Begriff der »dauernden Sicherung« ist erheblich unschärfer als der des Genozids. Der Historiker subsumiert Kriegsverbrechen, Völkermorde, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere Unrechtstaten unter ein Motiv, das ihnen angeblich allen gemein sein soll. Dabei zeigt schon der Blick auf die nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere die Shoah, dass diese monokausale Perspektive – unter der, wie Moses einräumt, durchaus Binnendifferenzierungen möglich sein sollen – den Gegenstand verfehlt. Die nationalsozialistische Propaganda sprach andauernd von Sicherheit, aber eben auch von Aufopferung, Heldentum, der »Kraft durch Freude«, der Überlegenheit der »Rasse«, von Reinheit, Volksgemeinschaft und so weiter. Nationalsozialistische Ideologie ist in sich widersprüchlich, sie vereinigt ganz unterschiedliche Psychodynamiken und projiziert Ambivalenzen pathisch aufs Feindbild. Moses indes stellt einen ganzen Forschungszweig unter einen einzigen Begriff, den er auch noch von einem Nazi im Verhör entlehnt hat.

In Moses’ vorgeschlagener Perspektive ist Antisemitismus als Motiv der Shoah sekundär. Das spiegelt sich auch darin, dass er vor allem auf die Nürnberger Prozesse eingeht und nicht etwa auf den für die Erinnerung an die Shoah wesentlicheren Frankfurter Auschwitz-Prozess. Zwar sagt er, es sei »wichtig, die Kulturgeschichte des Antisemitismus zu betrachten«, allerdings versäumt er, Schritte in diese Richtung zu unternehmen. So bleibt es letztlich bei Andeutungen, warum ausgerechnet die Jüdinnen und Juden zum Opfer der »dauernden Sicherung« geworden sind.

Ohnehin ist fraglich, inwiefern ein neues begriffliches Konzept eine »Grundlage für eine neue Erinnerungskultur« bieten soll. Am Anfang der Erinnerung steht nicht der Begriff, sondern das geschichtlich Konkrete. Auch nicht der Genozidbegriff ist grundlegend für die Erinnerung, sondern die Zeug*innen waren es. Gleichwohl die Erinnerungskultur oft wegen ihrer bisweilen sinnentleerten Floskelhaftigkeit kritisiert wurde, ist sie eine Errungenschaft von »unten«. Es waren Überlebende, die Zeug*innenschaft ihrer Geschichte ablegten, es waren ihre Nachkommen, die um Anerkennung kämpften. Der Ermordeten und Überlebenden wird gedacht, nicht der Täter und Täterinnen. Die Ideologie des Nationalsozialismus ist Gegenstand der Kritik, nicht des Gedenkens.

A. Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur. A. d. Engl. v. David Frühauf. Matthes & Seitz, 159 S., br., 15 €.

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