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»Boris Godunow«: Gesamtkunstwerk Russland
Den »Regime Change« proben: Frank Castorf wirft mit seiner Inszenierung von Modest Mussorgskys »Boris Godunow« an der Staatsoper Hamburg einen weiten Blick auf die russische Geschichte
Es ist wirklich kein Geheimnis: Berlin ist mitunter reichlich provinziell. So wurde am Freitag in der Hauptstadt vor der ehrwürdigen Staatsoper Unter den Linden heftig protestiert. Anlass war der Auftritt von Anna Netrebko, der eine private und ideelle Nähe zu Wladimir Putin nachgesagt wird. Da ist es dann auch egal, dass sich Netrebko bereits im vergangenen Jahr deutlich gegen den Krieg auf ukrainischem Boden ausgesprochen hat. Es überwiegt die Angst vor den russischen Tönen auf deutschen Bühnen. Denn russische Kultur, so die Argumentation der Protestler, öffne die Tür für russische Kriege. Und überhaupt: Wen interessiert die Kunst, wenn sie nicht politisch brauchbar gemacht wird?
Ganz anders in Hamburg, wo man sich dieser Tage hanseatisch-weltoffen zeigt. Am Sonnabend feierte die Oper »Boris Godunow«, die musterhaft russische Geschichte verhandelt, in der Urfassung des slawophilen Romantikers Modest Mussorgsky ihre Premiere. Kent Nagano verantwortete das Dirigat, Frank Castorf übernahm die Regie. Gesungen wurde keine Übersetzung, sondern das russische Original.
Es ist eine komplexe Geschichte, die Alexander Puschkin mit »Boris Godunow« zu einem Dramenpanorama entwickelt hat, auf dem wiederum Mussorgskys loser Bilderreigen beruht. Und nicht minder komplex ist die Vorgeschichte dazu. Beide lohnt es nachzuerzählen.
Im 16. Jahrhundert beherrscht ein Mann Russland, der als Iwan der Schreckliche in die Geschichte eingehen wird. Mit harter Hand regiert er – und sorgt weitestgehend für Ordnung im multiethnischen Staatengebilde. Sein Thronfolger Fjodor ist ein guter Christ und ein schwacher Herrscher. 14 Jahre ist er an der Macht, ehe auch er stirbt. Von der Folgezeit spricht man in der russischen Geschichtsschreibung als Zeit der Wirren, falsche Zaren treten auf den Plan. Auch der Bojarenfürst Boris Godunow strebt nach oben. Hier setzt die Oper ein.
Das Volk fordert geradezu Boris’ Thronbesteigung – allerdings nicht ohne Druck von außen. Der lässt sich alsbald feiern für seinen Großmut. In einem Kloster schreibt der Mönch unterdessen seine Chronik Russland. Mit der Schilderung des Todes des Zarensohns Dimitrij, umgebracht auf Geheiß von Boris, will er sein Werk beenden. Seinem Bruder Grigorij erzählt er die Geschichte, deren Zeuge er geworden war. Der sieht die Gelegenheit, sich als Thronfolger auszugeben. Grigorij reist, um seinen Plan zu verwirklichen, unerkannt nach Polen und schließt sich dazu Wandermönchen an. Bald ist Boris vier Jahre an der Macht und quält sich mit Gedanken an den toten Dimitrij. Gerüchte um eine Wiederkehr des totgeglaubten Zarensohns machen die Runde. Derweil giert auch der Bojar Schujskij nach der Macht. Russland wird von Krisen und Nöten heimgesucht und sichtlich schwindet auch Boris’ politische Stärke. Konfrontiert mit dem »falschen Dimitrij« stirbt schließlich der angeschlagene Titelheld.
Hat sich Castorf also einen Opernklassiker geschnappt, den er als Folie für seinen Kommentar zum Zeitgeschehen nutzen kann? Für seine Gedanken zum Putin-Medwedjew-Wechselspiel und zum so deklarierten Putsch eines Jewgeni Prigoschin? So einfach macht es sich der Theaterregisseur nicht. Der Plan, »Boris Godunow« hier auf die Bühne zu bringen, ist älter als das kriegerische Treiben Russlands in der Ukraine. Die Corona-Pandemie hat für eine erhebliche Verschiebung gesorgt. Und so hat an diesem Opernabend alles einen doppelten, wenn nicht dreifachen Boden. Castorfs Blick reicht tief in die russische Geschichte hinein und will mehr sein als ein Postskriptum zum Zeitgeschehen. Es ist eine fundierte Auseinandersetzung mit dem langen sowjetischen Jahrhundert, die darüber hinaus zu erzählen vermag, wie Machtwechsel sich ereignen.
Mussorgskys Komposition war schlecht gelitten unter seinen Zeitgenossen. Karriere machte die spätere Adaption seines nicht weniger bekannten Kollegen und Freundes Nikolai Rimski-Korsakow. Und noch später versuchte sich Dmitri Schostakowitsch an dem Opus, ebenfalls mit weitaus größerem Erfolg. Erst in den letzten Jahren besinnt man sich wieder auf Mussorgsky. In Hamburg darf man nun sogar die Urfassung hören, die unter anderem wegen ihres Mangels an Frauenpartien und der Vielzahl an chorischen Passagen stark angegriffen wurde. In einer Werkeinführung vor der Premiere betont der Dramaturg Patric Seibert die Schroffheit der Musik. Davon ist aus dem Orchestergraben aber wenig zu hören. Äußerst feinfühlig dirigiert Kent Nagano dieses Werk über rabiate Machtwechsel.
Auch Castorf, eigentlich ein Meister des Exzesses auf dem Theater, verkneift sich jegliche oberflächliche Provokation. Seine Inszenierung ist geradezu ein nüchtern-analytisches Glanzstück. Die Aufteilung der russischen Regenten in die »Guten« und »Bösen« hat etwas Kindlich-Naives. Den Regisseur interessiert etwas anderes: In »Boris Godunow« stellt sich sehr zentral die Frage nach politischer Stabilität und die Versuche, diese zu erschüttern.
Dass es in Puschkins und Mussorgskys Werken Polen ist, das, auch religiös motiviert, ein bestehendes Machtgefüge außer Kraft zu setzen weiß, nutzt Castorf etwa für sinnfällige Parallelisierungen ohne Vereinfachung: Zu Beginn der Inszenierung begegnet uns das Konterfei des jungen Karol Wojtyła, später sehen wir Flugblätter der polnischen Gewerkschaft Solidarność. Es ist fast immer ein Zusammenwirken äußerer und innerer Umstände, das die Macht in neue Hände gleiten lässt.
Großartig, frei von pseudo-östlichem Kitsch, hat Adriana Braga Peretzki das Sängerensemble kostümiert. Einiges davon ruft Verbindungen zu Sergej Eisensteins großem russischen Historienfilm »Iwan der Schreckliche« auf. Aleksandar Denić hat ein überreiches Bühnenbild entworfen, das sich uns von allen Seiten grundverschieden zeigt und den Dauereinsatz der Drehscheibe abverlangt. Orthodoxe Kirchen mit markanten Zwiebeltürmen sind zu sehen, aber auch eine Fregatte, die die Nummer 917 ziert, die uns an das große russische Revolutions- und Schicksalsjahr erinnert. Über den Kirchtürmen erscheint an einer Stelle der Inszenierung übergroß ein berühmtes Plakat realsozialistischer Provenienz, das einen Kosmonauten zeigt und darunter die Worte »Boga njet!« – Es gibt keinen Gott. Hier und da tauchen Leinwände auf, die Raum geben für das Spiel vor der Live-Kamera. Eine andere Bühnenansicht gibt uns Einblick in ein Hinterzimmer sowjetischer Machtausübung – zwischen rotem Sofa, Billardtisch und Stalin-Büste. Alles übertrumpfend aber ist das Replikat der berühmten Plastik mit dem Titel »Arbeiter und Kolchosbäuerin«, die in Moskau steht und der Gesellschaft Mosfilm als Signet diente. Er, den Hammer erhoben, sie, die Sichel gleichsam nach oben gerichtet, schreiten gemeinsam voran. Es kommt allerdings der Zeitpunkt, da muss jene Statue mit den Insignien sozialistischer Herrschaft weichen und einer gigantischen Coca-Cola-Flasche Platz machen.
So sehen wir an diesem Opernabend die auf unlauterem Weg zur Macht Gelangten und ihre Widersacher, diejenigen auch, die noch auf ihren großen Augenblick warten, die Strategen im Hintergrund. Wir dürfen darin die Wiedergänger der Geschichte erkennen, Stalin und Trotzki und Breschnew. Immer wieder wird das Volk auch zur treibenden Kraft des Geschehens. Treibend? Nun ja, die Massen drängen hier auf nichts, wozu sie nicht durch Manipulation selbst getrieben werden. Und man darf sich seinen Reim machen auf das, was uns im Kreml vielleicht erwarten mag. Ein »Regime Change« wird mitunter angesichts von Russlands militärischem Wüten gefordert. Als wäre das so einfach. Als wüssten wir, was danach kommen wird.
Das Hamburger Publikum sieht hochkonzentriert auf das Geschehen. Keine Saalflucht, keinerlei Buhs – für Castorf durchaus ungewöhnlich. Musik und Assoziationsreichtum dürften noch lange zu denken geben, auch wenn – oder gerade weil? – dieser Abend ohne Tamtam und Knalleffekte auskommt.
Nächste Vorstellungen: 20., 23. und 26. September
www.staatsoper-hamburg.de
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