• Kultur
  • Vergessene Verbrechen

Deutscher Kolonialterror in Ostafrika

Die Gewaltpolitik des Kaiserreichs in Ostafrika ist kaum bekannt. Ein Vorabdruck aus »Der verschwiegene Völkermord«, dem neuen Buch von Aert van Riel

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Bevölkerung sollte »bedingungslos zu Kreuze kriechen«, wurde damals gefordert, sonst drohte die Vernichtung.
Die Bevölkerung sollte »bedingungslos zu Kreuze kriechen«, wurde damals gefordert, sonst drohte die Vernichtung.

Heldengeschichten müssen nicht aufwendig präsentiert werden. Manchmal reichen schon ein paar Sätze auf einer Tafel, an der viele Menschen vorbeigehen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Eine solche Geschichte können Besucher des Nationalmuseums von Tansania nachlesen, das sich in der Hafenstadt Dar es Salaam am Indischen Ozean befindet. Hier wird das Leben von Nduna Mkomanile erzählt. Sie hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit vielen anderen Menschen Widerstand gegen die Herrschaft des Deutschen Kaiserreichs in der Kolonie Ostafrika geleistet, zu der Tansania (ohne Sansibar), die heutigen Staaten Ruanda und Burundi sowie ein kleiner Teil des heutigen Mosambik gehörten.

Nduna Mkomanile wird als mutige Frau beschrieben, die half, das »Maji«, das Kiswahili-Wort für »Wasser«, unter den antikolonialen Befreiungskämpfern zu verteilen. Es handelte sich um eine Art Zauberwasser, das zwar nicht, wie es die Verteiler der Flüssigkeit versprochen hatten, dazu führte, dass sich die deutschen Gewehrkugeln in Wasser verwandelten, aber es machte den Ostafrikanern im Kampf gegen die übermächtigen Deutschen und deren Verbündeten Mut.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Der nach diesem Zauberwasser benannte Maji-Maji-Krieg von 1905 bis 1908 gilt als einer der größten Kriege, die in Afrika während der Zeit des Kolonialismus ausgefochten wurden. Allein die hohen Opferzahlen geben einen Hinweis darauf, wie groß die Verbrechen waren, die im Namen des Deutschen Reiches im heutigen Tansania begangen wurden. Sie waren höher als in Südwestafrika, wo die Deutschen auf dem Gebiet des heutigen Staates Namibia einen Völkermord an den Herero und Nama verübten.

Der tansanische Historiker Gilbert Clement Kamana Gwassa, der im Jahr 1973 seine Dissertation zum Maji-Maji-Krieg an der Universität Dar es Salaam einreichte, kam in seinen Forschungen zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung in einigen Regionen der Kriegsgebiete vernichtet wurde. Die meisten Menschen starben nicht während der Kampfhandlungen, sondern durch eine Hungersnot und Epidemien nach dem Krieg.

Vor allem in den südlichen Regionen des heutigen Staates Tansania wurden nach dem Krieg auf deutschen Befehl die Dörfer, Felder und Getreidespeicher von den Kolonialtruppen zerstört. Gwassa schätzt, dass zwischen 250 000 und 300 000 Menschen durch den Krieg und seine Folgen ums Leben gekommen sind, also etwa ein Drittel der Bevölkerung in dem betroffenen Gebiet.

An der Universität von Dar es Salaam wird mehr als 100 Jahre nach dem Ende des Maji-Maji-Krieges noch immer zu diesem Teil der Geschichte des Landes geforscht. Zu den neueren Projekten zählen Interviews und archäologische Untersuchungen in den Gegenden, die am stärksten vom Krieg betroffen waren. Der Historiker Bertram Mapunda, damals Direktor des Fachbereichs für Geschichte an der Universität Dar es Salaam, erklärte im Jahr 2004: »Die Deutschen würden uns gerne glauben machen, dass es eine Horde Wilder gab, die barbarische Handlungen gegen sanftmütige weiße Menschen begangen haben. Wir müssen aber die grausamen und barbarischen Handlungen untersuchen, welche die Deutschen gegenüber den Afrikanern verübten. Wir konzentrieren uns auf die afrikanische Perspektive. Ich sehe diesen Trend als eine Rückgewinnung unserer Geschichte und unseres Erbes.« Damit brachte er den tansanischen Ansatz bei der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte auf den Punkt.

Ich nehme Kontakt zu Oswald Masebo auf. Der Professor an der Universität von Dar es Salaam ist nicht nur in Tansania ein bekannter Historiker, sondern seine Meinung wird auch von Experten in Deutschland geschätzt. Im Jahr 2016 hielt er einen Vortrag im Rahmen einer hochkarätig besetzten Ringvorlesung der Universität Hamburg, an der auch die frühere Entwicklungsministerin und SPD-Politikerin Heidemarie Wieczorek-Zeul teilnahm.

Im Interview erklärt Oswald Masebo, dass es zur Frage, ob man die deutschen Verbrechen während des Maji-Maji-Krieges als Völkermord einstufen könne, unter Historikern keine einheitliche Meinung gebe. Er gehört zu denjenigen, welche die Völkermord-These bejahen. »Dafür sprechen die große Zahl an Tötungen im Zusammenhang mit dem Krieg, die Zerstörungen und die von Menschen herbeigeführte Hungersnot«, sagt er. Viele Menschen, die mit dem Krieg direkt oft nichts zu tun hatten, wurden zu Opfern des Kolonialregimes. »Als erstes starben die Schwächsten an dem Hunger und den Krankheiten. Viele Kinder und die Ältesten haben ihr Leben verloren.«

Völkermord verjährt nicht. Der Straftatbestand ist in der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen definiert, die im Jahr 1951 in Kraft trat. In Artikel 2 dieser Konvention werden Handlungen als Völkermord definiert, »die in der Absicht begangen« werden, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Darunter fallen die gezielte »Tötung von Mitgliedern der Gruppe«, »die Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden« und die »vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung« herbeizuführen.

Die Truppen des Kaiserreiches haben in der ostafrikanischen Kolonie wissentlich dafür gesorgt, dass Menschen massenhaft starben. Hunger und Krankheiten breiteten sich nach dem Krieg schnell aus. Viele Menschen verloren ihr Leben, weil sie in ihrer Not giftige Pflanzen aßen. Folgt man der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen, kommt man zu dem Schluss, dass die Deutschen den Menschen in Ostafrika Lebensbedingungen auferlegt haben, die zu einem massenhaften Tod geführt haben.

Forschungen des Historikers Gwassa aus den 1960er und 1970er Jahren belegen, dass einige ethnische Gruppen besonders stark unter der Vernichtungsstrategie des Kaiserreichs litten. Die Deutschen gingen nach dem Krieg von 18 000 bis 20 000 Opfern unter den Matumbi aus, die sich als erste gegen die Kolonialmacht erhoben hatten. Der damalige Gouverneur der Kolonie, Gustav Adolf von Götzen, schrieb dazu lapidar in seinen Erinnerungen: »Dass Matumbi in den Monaten, die dem Aufstand folgten, von einer schweren Hungersnot heimgesucht wurde, war nur allzu begreiflich, wenn man bedenkt, dass der Aufstand alle Kulturen vernichtet hatte. Auch von der Bevölkerung war wohl die Hälfte dem Aufstand zum Opfer gefallen.«

Nach Angaben von Gwassa fielen zudem Zehntausende Angehörige der Ngoni während des Krieges und in der Folgezeit den Grausamkeiten zum Opfer. Im Distrikt Songea, im Südwesten des heutigen Tansania, lebten von ursprünglich gezählten 166 000 Einwohnern nach dem Krieg nur noch 20 000. Songea ist die Heimat vieler Ngoni. Von den Pangwa, die in der südwestlichen Region Njombe beheimatet sind, starben neun Zehntel, konstatiert der deutsche Forscher Jigal Beez, der von 2006 bis 2011 für den Deutschen Entwicklungsdienst und die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Tansania, Uganda und Südafrika tätig war.

Von schätzungsweise 40 000 Vidunda, deren Gebiet vor allem in bergigen Gegenden in der Nähe von Morogoro liegt, überlebte ebenfalls nur eine Minderheit den Maji-Maji-Krieg und die darauffolgende Hungersnot. Nach Angaben der britischen Admiralität lebten im Jahr 1916 nur noch etwa 5000 Vidunda in der Kolonie.

Der Hungertod war Teil des Plans der deutschen Kolonialverwaltung. Diese legte fest, dass nur arbeitsfähige Einheimische Nahrungsmittelhilfe erhalten sollten. Wer zu schwach war, um die schwere körperliche Arbeit auf den Plantagen oder den Straßenbaustellen zu leisten, den überließen sie einem grausamen Schicksal.

Es gab zwar keinen expliziten Vernichtungsbefehl. Der Begriff »Vernichtung« wurde aber unter anderem von rechten Publizisten benutzt. »Diplomatische Kunststücke versagen bei Menschen unterer Kulturstufe, wenn sie nicht durch Waffengewalt unterstützt werden«, so ein Schreiber der »Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung«, die von 1899 bis 1916 in Dar es Salaam gedruckt wurde. Das bedeutete: Die Bevölkerung solle »bedingungslos zu Kreuze kriechen«. Sonst drohte »Krieg bis zur Vernichtung«. Solche Texte begleiteten die deutsche Großoffensive gegen die Maji-Maji-Krieger im Herbst 1905. Zwei Jahre später erklärten die Deutschen die Kolonie für »befriedet«. Die letzten Militäraktionen der Maji-Maji-Krieger endeten 1908 erfolglos.

Nduna Mkomanile hat das nicht mehr miterlebt. Die Ngoni-Herrscherin wurde am 27. Februar 1906 gemeinsam mit 66 weiteren lokalen afrikanischen Anführern von der deutschen Kolonialverwaltung zum Tode verurteilt und hingerichtet. In diesem Ort im Süden Tansanias ist der 27. Februar noch immer ein Anlass zum Gedenken an das koloniale Unrecht. Die Veranstaltungen sind für das Land und seine Einwohner von so großer Bedeutung, dass auch hochrangige tansanische Politiker daran teilnehmen.

Die Ausrottung von Hunderttausenden Ostafrikanern ist in Deutschland, dessen Eliten sich gerne als Vorreiter bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit bezeichnen, noch immer kein großes Thema.

Aert van Riel: Der verschwiegene Völkermord. Deutsche Kolonialverbrechen in Ostafrika und ihre Folgen. Papyrossa, 178 S., br., 16,90 €.

Aert van Riel
Aert van Rielnd - RedakteurPolitik/ Inland09. September 2017Foto...

Wer erinnert sich im heutigen Deutschland an die Verbrechen, die das Kaiserreich in der Kolonie Ostafrika beging? Dazu erscheint jetzt bei Papyrossa das Buch »Der verschwiegene Völkermord« von Aert van Riel. Er leitete von 2018 bis Mitte dieses Jahres das Politikressort dieser Zeitung und ist nun Referent für Antirassismuspolitik beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!