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Was tun gegen die AfD? Politische Streiks als Antwort
Plädoyer für politische Streiks als Antwort auf die Krise des Parteiensystems
Die AfD im Höhenflug: 21 Prozent der Befragten würden sie wählen. Die Partei träumt von echten Chancen auf die Macht. Gründe für die Attraktivität? 67 Prozent ihrer potenziellen Wähler*innen geben laut ARD-Deutschlandtrend an, die Partei wählen zu wollen, weil sie von der Politik der anderen Parteien enttäuscht sind. Vor allem die Regierungsparteien sorgen demnach für Frust. Eine Protestwahl also. Soziologisch fällt zudem in den Blick, dass die Partei besonders bei Erwerbstätigen punkten kann. Welchen Reiz hat gerade hier ein Widerstand an der Wahlurne – zumal ein dysfunktionaler, wenn man sich vor Augen führt, dass die Programmatik der Partei vor allem Wohlsituierten nützt? Und wie kann diese destruktive Energie wieder konstruktiv genutzt werden?
Störung der parlamentarischen Gemütlichkeit
Was die AfD vermag, ist, klare Frontstellungen zu beziehen. Hier die AfD, dort alle anderen Parteien. Sie stellt eine Machtfrage an der Konfliktlinie (völkisch-) konservativ versus liberal und produziert damit größte Aufregung. Auch an der Konfliktlinie Ökologie versus Ökonomie gelingt ihr diese Polarisierung. Die AfD in Verantwortung kommen zu lassen, verspricht eine echte Verschiebung der Macht in diesen gesellschaftlichen Konfliktfeldern. Das erzeugt Spannung.
Die Klärung dieser Fragen ist die Aufgabe des Parlaments. Woher die Aufregung? Diese Machtfragen stören die parlamentarische Gemütlichkeit. Die bisher regierenden Parteien bieten keine Richtungsentscheidungen mehr an. Es gibt keine Polarisierung zwischen SPD und CDU oder Grünen und FDP. Sie scheinen ihre Rolle gemeinschaftlich in der Moderation der Gesellschaft zu sehen. Immer bemüht, alle relevanten Interessengruppen auszutarieren. Dabei ist man sich im Pfad weitgehend einig. Alle vertreten eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, eine transatlantisch geprägte Außenpolitik und auch eine grundsätzlich liberale Haltung hinsichtlich individueller Lebensentwürfe.
In der umkämpften »Mitte« regieren nur Akzente. Rente mit 67 – mit oder ohne Ausnahmen? Kohleausstieg bisschen früher oder bisschen später? Wie viele Waffen liefern wir der Ukraine – viel oder sehr viel? Auf dem CSD wurden schon alle Mitte-Parteien gesichtet. Größere Verschiebungen bleiben aus. Das mag schön berechenbar sein. Angesichts von Klimawandel und disruptiver Digitalisierung sind aber keine Beharrungskräfte gefragt. Die großen Konflikte bleiben unbefriedet; die Wahlentscheidung ist letztlich unwirksam. Man mixt die Parteien seit 20 Jahren und bekommt immer dieselbe Geschmacksrichtung. Ob noch Merkel oder schon Scholz regiert, können nur feinste Gaumen herausschmecken.
Ein Indiz der Beliebigkeit ist die Spendenliste des Bundestagspräsidenten. So fand der Verband der Bayrischen Elektroindustrie in diesem Jahr seine Interessen bei SPD, FDP und CSU wieder, also bei den Parteien, die sich an der Konfliktlinie von Kapital und Arbeit gegenüberstehen sollten. Die Autovermietung Sixt unterstützte 2022 Grüne wie auch FDP, die theoretisch in der Frage Ökologie versus Ökonomie in verschiedenen Ecken stehen. Die Deutsche Vermögensverwaltung verteilte ihre Zuwendungen 2021 an SPD, Grüne, CDU und FDP. Offensichtlich stehen alle für eine gute Vertretung der Kapitalanlegerinteressen. Ebenso wenig konnte sich die Flossbach von Storch-Bank zwischen Grünen und FDP entscheiden. Nur unpässliche Linke und die völkische AfD tauchen in diesem Spiel der Beliebigkeit nicht auf, auch wenn die Blauen ebenfalls reiche Gönner besitzen.
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Warum sind Erwerbstätige in dieser Situation besonders von der Protestwahl angezogen? Die Antwort liegt in ihrer Lebensrealität: sinkende Reallöhne, steigende Verbraucherpreise, unbezahlbare Immobilien und klamme Kommunen, die immer weniger Daseinsfürsorge liefern. Atypische Beschäftigung wächst und macht Lebenswege unwägbarer. Im Gegenzug sammelt sich der Wohlstand des Landes bei einer kleinen Zahl Schwerstreicher. Moralisch richtige Sätze wie Merkels »Wir schaffen das« treffen auf immer mehr Menschen, die materiell schon länger nicht mehr wissen, wie sie überhaupt etwas »schaffen« sollen. Mit der geringen Aussicht auf Kursänderungen bei den etablierten Parteien kann die Protestwahl als die letzte aktive Option an der Wahlurne erscheinen, bevor man sich mit der Nichtwahl an den Spielfeldrand stellt. Die Linke hat ihren Protestnimbus verloren, andere Kleinstparteien erzielen keine Effekte. Angst und Schrecken im Schlafwagen verbreitet nur die AfD. Seit 1983 hat sich die Zahl der Nichtwählenden verdoppelt.
Man kann nun mit gutem Gewissen Wählerbeschimpfung betreiben, weil Faschismus keine Akzeptanz verdient. Oder man fragt sich, wo Menschen, die keine Repräsentation mehr finden und auf destruktiven Irrwegen sind, konstruktiv abgeholt werden könnten, wenn nicht im Parteiensystem?
Blicken wir aus dem Parlament heraus: Mit Black Lives Matter, Vonovia enteignen oder eben auch den Schwurbelprotesten gegen die Corona-Maßnahmen haben sich in jüngerer Zeit immer wieder Bewegungen gebildet, die konkrete Machtfragen stellen. Sie richten ihre partikulare Forderung an die Politik. Diese erhört sie – oder eben auch nicht. Die Verzweiflung des zivilen Ungehorsams der Klimakleber bringt Aufmerksamkeit, aber übt keinen echten Druck auf die Mächtigen aus. Nicht selten mündet der Aktivismus der Straße in eine Ohnmachtserfahrung.
Gewerkschaften als politische Akteure
Eine Interessensorganisation in Deutschland kann außerhalb des Parlamentarismus Machtfragen mit eigenen Mitteln klären: Gewerkschaften. Sie tragen naturgemäß viel Konfliktbereitschaft in sich. Das erlebt man bei Streiks, wo Strittiges in echte Stärketests überführt wird. Die Konfliktbereitschaft sieht man in den Anstrengungen, das sogenannte »Organizing« als Praxis in den Betrieben anzuwenden, um bessere Durchsetzungsfähigkeiten zu erlangen. Und neben der üblichen Routine, Inflation und Produktivitätssteigerung dem Arbeitgeber als Rechnung zu präsentieren, kommen in Tarifrunden auch immer wieder Forderungen auf die Agenda, die auf echte Verbesserung der Lebenswelt arbeitender Menschen zielen, so wie zusätzliche freie Tage für Pflege oder zurzeit die Debatte um die Vier-Tage-Woche. Mal mehr, mal weniger zugespitzt, gewiss. Aber im Zweifel wird die Sache mit einer Machtprobe geklärt. Man hat die Chance, für seine Interessen einzustehen und auf Sieg zu spielen.
Jedoch: Die Gewerkschaftsbewegung ist nicht gut gealtert. Die Organisierungsgrade sinken. Immer weniger Unternehmen sind tarifgebunden. Auch Gewerkschaften müssen sich also fragen, wie ihr Nutzen wieder größer werden kann. Die Menschen laufen ihnen nicht automatisch in Scharen zu.
Vertretungslücke als Chance
Die funktionale Lücke des Parteiensystems könnte Quelle neuer Attraktivität sein. Die Gewerkschaften könnten sich anbieten, stärker in die Machtfragen der Gesellschaft einzusteigen. Der Streik als politische Praxis gibt kollektiven Interessen dabei eine echte Möglichkeit zur Klärung. Er sollte nicht nur in Betrieben und Tarifrunden zur Anwendung kommen. Im Grunde sind Demonstrationen ohne Streik kollektives Betteln. Die Arbeitsniederlegung ist die echte Machtprobe in der Gewichtung von Interessen. By the way: Die Mehrheit der Bevölkerung ist lohnabhängig beschäftigt. Warum gibt es kein Rentensystem, das ihnen Sicherheit im Alter gibt, warum gibt es nicht flächendeckend Löhne, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, warum gibt es zwei parallele Krankenkassensysteme? Weil die Erwerbstätigen ihre einzige Trumpfkarte, die Masse, nicht zücken können.
Ein gewagter Gedanke, da politische Streiks in der herrschenden Meinung als verboten gelten. Begründet durch ein 1952 gefälltes Urteil des Freiburger Landesgerichts zum »Zeitungsstreik«, das auf einem Gutachten von Hans Carl Nipperdey beruhte. Dieser hat seine juristische Karriere im Nationalsozialismus begründet. Dass sein Denken von einem autoritären Staatsverständnis geprägt wurde, liegt nahe. Nipperdey führte in seinem Gutachten aus, dass Streiks nur zulässig seien, wenn sie auf eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen abzielten. Druck auf die Gesetzgeber auszuüben, sei, so seine Argumentation, nicht legitim.
Gesetzlich ist dieses »Verbot« nicht verankert. Es ist sogenanntes Richterrecht. Es obliegt den gesellschaftlichen Kräften, hier bei Bedarf das Grundgesetz neu zu verhandeln. Keine Fantasterei: Verdi hat im März 2023 die eigenen Tarifforderungen im öffentlichen Dienst mit den Anliegen von Fridays for Future verknüpft, beide Organisationen gingen zum globalen Klimastreik gemeinsam auf die Straße. Im Jahr 2007 rief die IG Metall zum »Protest während der Arbeitszeit« gegen die Rente mit 67 auf. Und es gibt noch mehr Beispiele, bei denen Versuche unternommen wurden, die Arbeiterbewegung auch außerhalb von Betrieben wirksam werden zu lassen.
So könnten die drängenden Machtfragen gestellt werden – ohne Bettelei beim ermüdeten Parlamentarismus. Politischer Streik wäre konstruktiver als eine Protestwahl und selbstwirksamer als das Nichtwählen. Die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen von Transformation und Digitalisierung könnten über den Werkszaun hinweg an Tarifkonflikte angedockt werden. Tarifpolitik und Kampagnenarbeit könnten noch stärker verzahnt werden. Die Legislative aus dem Zuschauerraum zu holen, wäre die Idee. Es geht nicht nur um die Vier-Tage-Woche in einem Stahlwerk; es geht um die Frage, wie wir arbeiten und leben wollen. Wie viel Recht auf Freizeit sollten Menschen haben? Es geht in den kommenden Tarifrunden nicht nur darum, wie Beschäftigte für die Transformation qualifiziert werden, sondern auch um die Fragen: Wer produziert eigentlich was? Und ergibt das überhaupt Sinn? Brauchen wir nicht eine neue Debatte über Eigentumspolitik? Ein attraktiver ÖPNV braucht gute Beschäftigung. Die Frage der Infrastrukturinvestitionen gehört in den Konflikt hinein. Krankenhäuser brauchen keine Profitlogik, sondern Personal, das allein die Genesung ihrer Patienten motiviert. Können tarifliche Forderungen mit der Frage Deprivatisierung verbunden werden? Das Bildungssystem ist keine schnöde Aufbewahrungsstätte, es ist wichtig, Lehrkräfte zu haben, die nicht am Rande des Burn-out stehen.
Gegen diese Sichtweise stehen andere Interessen im Raum. Superreiche wollen keine Erbschaftssteuer zahlen, Shareholder zweistellige Renditen erlangen und Konzerne alles für ihren Profit verwertbar machen. Diese somit gegensätzlichen Interessen gilt es, als Gesellschaft auf dem Boden des Grundgesetzes auszufechten. Wieviel konzentrierten Reichtum will die Mehrheit mit ihren Verzichten bezahlen? Die Gewerkschaften könnten mit einer neu gelebten Koalitionsfreiheit mit dem Streik als politischer Praxis ein Angebot zur Sammlung sein. Denn: Diese Machtfragen stellen sich nicht nur nach Feierabend.
Marco Höne ist Gewerkschaftssekretär und Mitglied der Linken.
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