Das Hochwasser hat Libyen verändert

Die Menschen in Libyen sind verzweifelt, bringen aber auch die Kraft auf, sich selbst zu helfen

  • Mirco Keilberth, Tripolis
  • Lesedauer: 6 Min.
Rettungsteams des russischen Katastrophenschutzministeriums in der vom Hochwasser besonders betroffenen libyschen Stadt Darna
Rettungsteams des russischen Katastrophenschutzministeriums in der vom Hochwasser besonders betroffenen libyschen Stadt Darna

Auch rund zwei Wochen nachdem der Tropensturm Daniel eine100 Kilometer breite Schneise der Verwüstung durch die ostlibysche Cyrenaika-Provinz gezogen hat, sind die Folgen der Verwüstungen unklar. Die Behörden in der Provinzhauptstadt Bengasi geben die Zahl der Toten bisher mit 4300 an, doch vor allem in der zu einem Viertel zerstörten Hafenstadt Darna suchen noch viele Familien nach ihren Angehörigen. Der vor einer Woche entlassene Bürgermeister von Darna befürchtete, dass die nach dem Bruch zweier Dämme zwölf Meter hohe, durch die Stadt tobende Flutwelle 20 000 Bewohner in das Mittelmeer gerissen haben könnte.

Amal Al-Hadsch, Mitgründerin eines landesweiten Netzwerkes libyscher Aktivistinnen, koordiniert aus dem ganzen Land in den Flutgebieten eintreffende Hilfslieferungen. »Rund um die weiterhin von Überflutungen betroffenen Städten Al-Baida, Susa und Schahat sind immer noch viele Menschen von der Außenwelt abgeschnitten«, sagt die 39-Jährige dem »nd« in Tripolis. »Die Überlebenden sind mittlerweile ausreichend mit Kleidung, Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt. Doch die hohe Zahl der vermissten Nachbarn oder Familienangehörigen traumatisiert eine ganze Region. Ich schätze, dass die Zahl der Opfer sogar noch viel höher ist als bisher angenommen.«

Al-Hadsch ist am Montag mit einem Team von Psychologinnen und Ärztinnen in das 800 Kilometer östlich der Hauptstadt gelegene Krisengebiet gereist. Der aus mehreren Reisebussen bestehende Konvoi der libyschen Frauen ist Teil einer nie dagewesenen Mobilisierung der Zivilgesellschaft über die ehemaligen Frontlinien hinweg. »Wir arbeiten mit Initiativen aus der südlichen Fezzan-Provinz, der Cyrenaika und vielen bis vor Kurzem noch verfeindeten Städten Westlibyens zusammen«, so Amal Al-Hadsch. »Es klingt zwar zynisch, aber diese Katastrophe hat die Bürger einander näher gebracht als die vielen Demokratisierungsprojekte der letzten Jahre.« Nach ursprünglicher Kritik an den vielen Kontrollen der in Ostlibyen tonangebenden Armee Khalifa Haftars können die Freiwilligen nun ihre Hilfe direkt an die Flutopfer verteilen.

»Wir müssen die Fahrzeuge, die mitreisenden Helfer und die Hilfsgüter bei der Armee in Bengasi registrieren, können uns mit den Genehmigungen frei in dem Gebiet bewegen«, so Al-Hadsch. Die Armee begründet die Registrierung mit der Furcht vor der Rückkehr von islamistischen Gruppen nach Darna, das zwischen 2014 und 2018 von der ultraradikalen Islamisten-Miliz Islamischer Staat (IS) besetzt worden war. Khalifa Haftars Soldaten hatten nach schweren Häuserkämpfen die Kontrolle der 220 000-Einwohner-Stadt übernommen. Haftars Kritiker glauben, seine Armee habe sogar mit den Radikalen gemeinsame Sache gemacht und diese wie in der Stadt Sirte dazu benutzt, westlibysche Milizen von seinem Herrschaftsgebiet fernzuhalten.

In dem für ihre starke Zivilgesellschaft und breite Kulturszene bekannten Darna stehen viele Bürger sowohl den Radikalen als auch der in den letzten Jahren erstarkten Armee kritisch gegenüber. Haftars Angriff auf Tripolis im Jahr 2019 hat sich hier kaum jemand angeschlossen. Der Fotograf Mohammed Mneina beschreibt die seit Jahren in der Stadt herrschende Stimmung so: »Während der Herrschaft von Muammar Al-Gaddafi war man wegen der vielen aus Darna stammenden Al-Kaida-Kämpfer im ganzen Land gebrandmarkt. Mit der Revolution kam der Islamische Staat und dann die Armee. Folge all dieser Konflikte ist eine besondere Form der Vernachlässigung der Infrastruktur.«

Eine Bürgerinitative aus Darna forderte am Sonntag in einer Erklärung die Aufklärung der Vorwürfe, denen zufolge die beiden während des Sturms kollabierten Dämme nie gewartet oder renoviert worden waren. Ein Bericht der Antikorruptionsbehörde in Tripolis hatte 2020 festgestellt, dass die 2012 beauftragte türkische Baufirma die bezahlten Arbeiten nie durchgeführt hatte. »Wir wollen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden«, sagte ein Sprecher der Bürgerinitiative während einer Pressekonferenz in Darna. Sie befürwortet die Präsenz der 166. Armeebrigade in der Stadt und verlangt sogar deren Überwachung des Wiederaufbaus der Stadt.

Nachdem Parlamentspräsident Aguila Saleh wenige Tage nach der Katastrophe zwar ohne Notfallplan und Mitleidsbekundung für die Opfer, aber dafür mit der Forderung nach einem 100 Millionen Dinar schweren Budget an die Öffentlichkeit gegangen war, entbrannten wütende Proteste in der Stadt. Denn Saleh bestand darauf, dass die Gelder von dem seit 2016 ohne Mandat tagenden Parlament verwaltet würden. Der wegen schweren Verdachtsvorwürfen entlassene Bürgermeister ist Salehs Neffe. »Darna war für alle Regierenden eine besondere Herausforderung«, so der Fotograf Mneina. »Nun fürchten sie, dass der Unmut über die Misswirtschaft und Korruption der letzten Jahre zu einer landesweiten Protestbewegung führen wird.«

Niemand in der Stadt glaubt daran, dass der Ausfall der Internet- und Telefonverbindungen direkt nach den Protesten wie offiziell behauptet die Folge des zufälligen Durchschneidens eines Kabels bei den Bergungsarbeiten gewesen ist.

»Die Angst der Regierenden in der Cyreneika davor, dass die Muslimbrüder oder von der Armee vertriebene radikale Milizen das Chaos nutzen, um sich in der Cyrenaika wieder zu etablieren, ist durchaus verständlich«, sagt Amal Al-Hadsch. »Doch auch die Zivilgesellschaft hat seit 2011 dazugelernt. Versuche, unsere Hilfsbereitschaft für Kampagnen für die eine oder andere Seite zu instrumentalisieren, sind gescheitert.«

Während die Bürger in Ostlibyen vor allem die Armee und das Parlament kritisch beäugen, ruinieren in Westlibyen der Großmufti Sadiq Ghariani und die Vertreter des politischen Islams ihre Reputation. Während in den Moscheen der Hauptstadt zu Spenden für die ostlibyschen Flutopfer und angesichts der größten Katastrophe seit der Unabhängigkeit des Landes zu Versöhnung aufgerufen wird, schweigt Ghariani eisern. Der für seine Abscheu von Khalifa Haftar bekannte Mufti beschäftigt sich in seinen Freitagspredigten lieber mit der angeblich unislamischen Tradition von Familientreffen während hoher religiöser Feiertage und dem dort servierten Essen. Aufrufe zu Spenden für die vermeintlich hinter Haftar stehenden Ostlibyer blieben aus. »In dieser Ausnahmesituationen zeigt sich, dass die breite Mehrheit der Libyer Versöhnung und einen Neuanfang will«, sagt der Journalist Moutaz Mati. »Die politische Elite wird mit der Fortsetzung ihres Konfrontationskurses scheitern.«

Der aus Tripolis stammende 45-Jährige ist zusammen mit zwölf anderen libyschen Journalisten seit gestern unter Begleitung von Polizisten in Darna eingetroffen. »Vergessen Sie alles, was Sie auf Bildern sehen«, sagt er dem »nd«. »Teile der Stadt sind wie nach der Explosion einer Atombombe wie pulverisiert.«

Mati bestätigt, dass es nach dem Abzug der meisten ausländischen Rettungsteams an Räumgerät und Erfahrung im Umgang mit der Katastrophe mangelt. »Aber ich spüre auch, dass diese Katastrophe ein Einschnitt in der Geschichte unseres Landes ist. Viele meiner ostlibyschen Kollegen entschuldigen sich offen für den Angriff auf Tripolis. Menschen aus dem ganzen Land sind hier im Einsatz. Und die Verantwortlichen für diese Katastrophe werden sich nicht so einfach wie zuvor aus der Affäre ziehen können, auch wenn sie bewaffnete Gruppen hinter sich haben.«

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