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»Bürgerrat Ernährung im Wandel«: Bürger*innen an die Macht!
Der erste vom Bundestag beauftragte Bürger*innenrat widmet sich der Ernährung
Bei der Produktion von 100 Gramm Kalbsfilet entstehen – von der Geburt über die Schlachtung des Kälbchens bis hin zum Verkauf des Fleisches – über 6000 Gramm klimaschädliches CO2. Das ist mehr als 60 mal so viel, wie die oft verteufelte Avocado verursacht, deren langen Transportweg bereits einberechnet. Fleisch, aber auch andere tierische Produkte haben aufgrund des hohen Bedarfs an Futtermitteln erhebliche Auswirkungen auf Klima und Umwelt. Ist Ernährung also eine Privatsache oder wäre es Aufgabe des Staates, sie zu regulieren, zum Beispiel durch Subventionen für ökologische Landwirtschaft oder höhere Steuern auf Fleisch und Milchprodukte?
Dem widmet sich der erste vom Bundestag beauftragte Bürger*innenrat »Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben«, der an diesem Wochenende seine Arbeit aufnimmt. Am Freitagabend eröffnet Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) den Bürger*innenrat »Ernährung im Wandel« im Rahmen einer festlichen Veranstaltung im Berliner Paul-Löbe-Haus. Anschließend starten die Teilnehmenden in ihr erstes Sitzungswochenende.
Der Verein Klimamitbestimmung, der sich für Bürger*innenräte einsetzt und bereits einige Projekte begleitet hat, nennt das einen »Meilenstein demokratischer Innovation auf Bundesebene«. Es gehe darum, »eine Schwäche des Systems« auszugleichen, sagt Simon Wehden dem »nd«. Er hat den Verein Klimamitbestimmung vor vier Jahren gegründet und ist dort für Klimaschutz und Strategie zuständig.
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Eine Schwäche der repräsentativen Demokratie sei die Kurzsichtigkeit vier- oder fünfjähriger Wahlzyklen. Gerade im Klimabereich seien Entscheidungen notwendig, die zum jetzigen Zeitpunkt tiefe Einschnitte bedeuten und sich erst in einigen Jahrzehnten auszahlen. Politische Entscheider*innen würden davon kaum profitieren, erklärt Wehden. Ein Bürger*innenrat könnte ihnen solche, womöglich unbeliebten Entscheidungen erleichtern, da er weder die nächste Wahl noch Parteiprogramme im Blick haben muss, sondern vor allem das Wohl der Allgemeinheit.
Oft berufe sich die Politik zwar darauf, dass gewisse Entscheidungen keine Mehrheit hätten, meist mit Verweis auf Umfrageergebnisse. Solche sind laut Wehden aber nur bedingt aussagekräftig, weil die Befragten zuvor in der Regel keine Möglichkeit zu Information und Austausch über das Thema hatten. Und genau das sollen zwei wesentliche Bedingungen des neuen Bürger*innenrates sein: Es wird Vorträge von Expert*innen geben, moderierte Diskussionen, Faktenchecks sowie einen wissenschaftlichen Beirat aus elf Forscher*innen, die von den unterschiedlichen Fraktionen benannt wurden und die Ausgewogenheit des vermittelten Wissens sicherstellen sollen.
Hinzu kommt, dass die 160 teilnehmenden Bürger*innen ihre diversen Alltagserfahrungen und Lebenswirklichkeiten einbringen – darunter auch solche, die sich sonst seltener in politische Gremien oder Beteiligungsprozesse einbringen. Menschen mit geringem Bildungsabschluss sind hier zum Beispiel häufig unterrepräsentiert. Die Mitglieder des Bürger*innenrates hingegen sollen die Bevölkerung Deutschlands ab 16 Jahren möglichst repräsentativ abbilden, sowohl was Wohnort, Alter, Geschlecht und Ausbildung als auch was Essgewohnheiten betrifft.
Dies wurde durch eine mehrstufige Zufallsauswahl unter Einbeziehung von Meldeamtsdaten sowie Fragebögen erreicht. Unter den im Juli final ausgelosten 160 Teilnehmenden sind nun zehn Prozent Vegetarier*innen und zwei Prozent Veganer*innen. Laut Ernährungsreport des Bundeslandwirtschaftsministeriums von 2021 entspricht das dem Anteil der Gesamtbevölkerung. Außerdem sollen Aufwandsentschädigungen, Kinderbetreuung, Technikhilfe und Übersetzungen die Teilnahme an den Sitzungen für alle ermöglichen.
Die Ampel-Regierung hatte Bürger*innenräte zu konkreten Fragestellungen bereits im Koalitionsvertrag versprochen. Themenideen wurden dann in einer vom Ältestenrat berufenen, fraktionsübergreifenden »Berichterstatterruppe Bürgerrat« diskutiert. Den Vorschlag zur Ernährung beantragten schießlich SPD, Grünen, FDP und Die Linke; die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten stimmten dem im Mai dieses Jahres zu.
Der Verein Klimamitbestimmung kritisiert diesen Prozess: Statt explizit Themen für den Bürger*innenrat herauszusuchen – was kaum ohne parteipolitisches Kalkül möglich sei –, sollte dieser eigentlich am Ende eines politischen Problems stehen. »Bürger*innenräte sind nicht nur ein Beteiligungs-, sondern in erster
Linie ein Problemlösungsinstrument. Sie ergänzen die parlamentarische Gesetzgebung genau dort sinnvoll, wo die Politik nicht weiterkommt«, heißt es in einer Stellungnahme.
Dennoch ist Ernährung aus Sicht des Vereins ein geeignetes Sujet. Andere wären zum Beispiel Wohnraum, Verkehr oder auch Organspende – in der Regel Themen, die mit Wertekonflikten verbunden sind, die hohe gesellschaftliche Relevanz und Transformationspotenzial haben, bei denen die Umsetzung aber auch davon abhängt, inwieweit die Bevölkerung sich mitgenommen fühlt. Es müsse von Seiten der Politik den Bedarf geben, vielfältige Perspektiven einzubeziehen, und die Offenheit, auch unpopuläre Empfehlungen anzunehmen, erklärt Wehden. So sagte Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) in diesem Jahr bereits mehrmals gegenüber der »Zeit«, es müsse neu diskutiert werden, »was gutes Wohnen ist«. Das könne sie als Bauministerin jedoch nicht beantworten. »Das muss die Gesellschaft miteinander besprechen.«
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Vorschläge eines Bürger*innenrats umgesetzt werden müssen. Der Rat selbst trifft keine Entscheidung, sondern gibt lediglich Empfehlungen ab – beim jetzigen Bürger*innenrat sollen diese auf neun begrenzt werden –, die zuerst im im Plenum des Bundestags, anschließend in thematisch zuständigen Ausschüssen diskutiert werden. Entscheidungen treffen nach wie vor die gewählten Abgeordneten.
Das findet auch Simon Wehden grundsätzlich richtig. Entscheiden sollten diejenigen, »die dafür zur Rechenschaft gezogen und auch wieder abgewählt werden können«, sagt er. Und es sei »total legitim, Empfehlungen abzulehnen«, allerdings müsse es dafür eine nachvollziehbare, transparente Begründung geben. Die öffentliche Aussprache im Plenum hält er für einen wichtigen ersten Schritt, doch es müsse auch sichergestellt werden, dass die Empfehlungen danach nicht in geheimen Ausschüssen versanden. Von Seiten der Bundestagsspressestelle heißt es dazu auf nd-Anfrage: »Nach Abschluss der parlamentarischen Beratungen entscheidet der Bundestag, wie er mit den Ergebnissen weiter umgeht.«
Nach Ansicht von Klimamitbestimmung müsse das jedoch schon bei der Einsetzung feststehen. Eine Möglichkeit dafür sei das Prinzip »Umsetzen oder Erklären«, das der Berliner Senat bei seinem Bürger*innenrat zum Thema Klima im vergangenen Jahr angewandt hat. Das bedeutet eine schriftliche Reaktion auf jede Empfehlung und bei einer Übernahme zusätzlich die Festlegung einer Zuständigkeit und eines Zeitplans für die Umsetzung. Auch beim Berliner Bürger*innenrat wurden letztlich jedoch keine Umsetzungstermine genannt, weshalb die Initiator*innen sich zusätzlich ein Kontrollgremium gewünscht hätten, das die Realisierung begleitet. Wenn trotz der vielen Arbeit, die Bürger*innen in solch einen Rat stecken, nichts dergleichen geschieht, könne das schlimmstenfalls zur Politikverdrossenheit beitragen, so die Befürchtung von Klimamitbestimmung.
Eigentlich sollten Bürger*innenräten das Gegenteil bezwecken: die Beziehung zwischen Bevölkerung und Politik stärken. »Das bedeutet auch, das die Teilnehmenden klar das Gefühl haben sollten, dass auf der anderen Seite jemand sitzt, der ihnen zuhört und reagiert«, so Wehden. Das sei während des Prozesses durch eingeplante Gespräche mit Politiker*innen gut geregelt. Doch auch danach müsste es noch einen Austausch zum Stand der Umsetzung geben, zum Beispiel in einer Sitzung des Ernährungsausschusses oder im Bundestagsplenum.
Einen positiven Einfluss darauf, dass die Bürger*innen sich ernstgenommen fühlen, sollte der Umstand nehmen, dass dem Ernährungsrat seine konkreten Diskussionsthemen nicht vorgegeben, sondern sie zu Beginn von den Teilnehmer*innen selbst festgelegt werden. Fix sind bislang lediglich die Termine, an drei Wochenenden in Präsenz und mit Exkursionen, an sechs Abenden digital. Voraussichtlich im Februar werden die neun Empfehlungen des Rates in Form eines Gutachtens an den Bundestag übergeben. Die Politik gebe die Macht über den Prozess in Bürger*innenhand ab, lobt Wehden. Obwohl Bürger*innenräte in vielen anderen Ländern bereits viel etablierter seien, zum Beispiel in Irland, Großbritannien oder Frankreich, sei diese Selbstbestimmtheit auch im internationalen Vergleich keine Selbstverständlichkeit.
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