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  • »Museum of Uncounted Voices«

Kein bequemer Abend

Von brennender Aktualität: Marina Davydovas »Museum of Uncounted Voices« im HAU

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 5 Min.
So viele Gesichter, so viele Schicksale – und doch gibt es nur ein Mensch-sein
So viele Gesichter, so viele Schicksale – und doch gibt es nur ein Mensch-sein

Nur selten gewinnt ein Theaterabend nach seiner Premiere noch an Aktualität hinzu. Bei Maria Davydovas »Museum of Uncounted Voices« ist das der Fall. Die theatrale Installation feierte Ende Mai im Rahmen der Wiener Festwochen ihre Premiere, nun ist sie zu Gast am Berliner HAU, kurz nachdem der Konflikt um die Region Bergkarabach erneut eskalierte. Davydova setzt sich mit Geschichte und Gegenwart ehemaliger Sowjetrepubliken auseinander. Neben Russland und der Ukraine geht es auch um die Länder Armenien und Aserbaidschan.

Zu Beginn wird das Publikum auf die Bühne gebeten, die einem Museumsraum nachempfunden ist. Eine Stimme aus dem Off präsentiert auf Englisch stolz die an den Wänden hängenden Exponate: darunter der zweiköpfige Adler, seit Iwan III. (1440 bis 1505) Wappentier des damals erstmals vereinigten russischen Reichs oder die legendären Ikone der Gottesmutter von Kasan. Russlands Geschichte wird als glorreiche Expansionsbewegung dargestellt und die Oktoberrevolution als Verbrechen an dieser Agenda verteufelt.

In nunmehr zornigem Tonfall schildert die Off-Stimme, wie die Bolschewiki das Zarenreich zugunsten der Sowjetunion aufgaben und ihren Satellitenstaaten formal das Recht auf Unabhängigkeit einräumten, das sie nach 1989 dann tatsächlich in Anspruch nahmen. Ein Frevel am natürlichen Streben Russlands! Leid, Chaos und Krieg, so darf man diese, deutlich als Propaganda markierte, Sichtweise auf die Geschichte verstehen, seien nur die Folgen des unerklärlichen Starrsinns jener Staaten, die einfach nicht einsahen, dass sie unter dem Banner Russlands besser aufgehoben wären.

Später kommen dann die Opfer dieser Erzählung zu Wort. Anstelle der russischen Exponate hängen nun folkloristische Trachten an den Wänden. Sie symbolisieren die Ukraine, Belarus, Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Jedem Volk ist eine Off-Stimme zugeordnet, die zunächst die Größe und Bedeutung des eigenen Landes erklärt und sich gegen die vorherige russische Geschichtsstunde positioniert. Schon bald aber fallen sich die Länder gegenseitig ins Wort, fangen Streit an, werfen sich gegenseitig ihre Verfehlungen vor. Das Publikum, dem es über weite Teile des zweistündigen Abends freisteht, sich auf der Bühne aufzuhalten oder aber im Zuschauerraum Platz zu nehmen, kommt bald nicht mehr hinterher in diesem lautstark geführten Disput.

Die Überforderung ist beabsichtigt. Geschichte, so eine zentrale Botschaft, bietet höchstens eine Erklärung für den politischen Status Quo, offenbart aber keinen Sinn. Wer auf einen solchen hofft, verfällt nur der Versuchung, sich einer Nation, einer Ideologie, einer Fiktion zu verschreiben. Freilich ist diese Kritik bestens bekannt. Sie erinnert an einen etwas aus der Mode gekommenen Politikbegriff, der glaubt, auf jede Zugehörigkeit verzichten zu können, da doch alle großen Geschichten auserzählt seien.

Man befürchtet bereits, die Inszenierung würde sich mit einfachen Antworten zufriedengeben. Doch dann kommt der letzte Teil, dann betritt die Schauspielerin Chulpan Khamatova die Bühne und hält einen Monolog, der eng an der Biografie der Autorin und Regisseurin dieser Arbeit angelehnt ist. Sie ist ein Opfer des Pogroms, das sich 1990 in Baku ereignete. Nationalistische Aserbaidschaner machten Jagd auf die armenische Minderheit in der Stadt, zu der sie auch Marina Davydovas Vater zählten, auch wenn er Armenisch lediglich mit seiner Mutter sprach. Wenn Khamatova von der verwüsteten Wohnung der Familie erzählt, denkt man an die aktuellen Nachrichten, in denen von drohenden Vertreibungen von Armeniern die Rede ist. Entweder Geschichte wiederholt sich doch oder sie tritt auf der Stelle.

Nach dem Pogrom ging Davydova nach Moskau und nahm an Protesten für ein freies Russland teil. Die Auflösung der Sowjetunion bedeutete für sie jedoch auch ein großes persönliches Unglück, denn sie verlor ihre Staatsangehörigkeit. Das neue Russland fühlte sich für sie nicht zuständig, Aserbaidschan hatte sie vertrieben und auch Armenien wollte nichts von ihr wissen, beherrsche sie doch nicht einmal die Sprache.

An diesem Schicksal soll erkenntlich werden, wie die Ideen von Kultur und Nation einen Menschen einengen, wie sie ihn daran hindern, derjenige zu sein, der er sein will. Man darf Davydova eine große Widerstandskraft unterstellen, hat sie in Moskau, der Stadt, die sie liebt, doch trotz allem Beachtliches erreicht. Sie leitete ein renommiertes Festival und übernahm die Chefredaktion des renommierten Magazins »Teatr«. Diese Karriere im russischen Kulturbetrieb endete jedoch abrupt mit dem Einmarsch in die Ukraine. Nach einem Protestschreiben wurde sie bedroht und floh erneut – nun ins Berliner Exil.

Beruflich ist sie vergleichsweise weich gelandet, übernimmt sie doch die Schauspielsparte der Salzburger Festspiele. Doch sehnt sie sich zurück, Khamatova beschwört an ihrer Stelle die Boulevards von Moskau, beklagt den Verlust ihrer selbstgewählten Heimat, und mehr noch: dass niemand ihre eigene Identität, ihre Sehnsüchte beachtet, den Wunsch, ihr Leben nach den eigenen Koordinaten auszurichten.

Auch im Westen scheinen die Ideen wichtiger zu sein als die Menschen. Spöttisch zitiert Khamatova Dialoge mit Kulturfunktionären, die ihren Postkolonialismus eifrig studiert haben und deswegen davon ausgehen, sie sei keine Russin. Grollend kommentiert sie auch die Weigerung ukrainischer Exilanten, eine Bühne mit russisch sprechenden Kollegen zu teilen. Es ist kein bequemer Abend.

Jede Politik, jede Ideologie, jede historische Fiktion steht immer schon in Konflikt zum Einzelnen, der sich weigert, als Spielfigur in einem höheren Plan aufzugehen. Pathos füllt am Ende die Bühne, und ist hier sehr bewusst gesetzt. Denn nicht auf den Individualismus pocht Davydova und nicht einmal auf Menschlichkeit, nicht auf ein weiteres Konzept also, sondern auf ihr Recht, ein Mensch wie kein anderer zu sein. Sie fordert einen Platz in der großen Historie, an dem sie selbst ihre eigene Geschichte schreiben kann.

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